Ständig wird von einer politischen Krise gesprochen. Wir sollten aber verstehen, wie wichtig Krisen sind. Wir sollten verstehen, dass Raunzen, Jammern und Schlechtreden keine Krisenbewältigung ist, sondern das Gegenteil davon.
Alle Menschen kennen Krisen. Ja, eine Krise ist eine sehr menschliche, ein sehr subjektive Betrachtung einer Veränderung. Die Veränderung findet in jedem Fall statt. Ob wir der Meinung sind, »eine Krise gemeistert« zu haben oder »an einer Krise gescheitert« zu sein – eine Veränderung hat in beiden Fällen stattgefunden. So oder so. Die Krise beleuchtet viel mehr unsere Konflikte in dieser Entwicklung als die Entwicklung selbst.
Wer beim Laufen oder Gehen langer Strecken oder bei Tätigkeiten und Projekten, die lange Zeit in Anspruch nehmen und Durchhaltevermögen fordern, in eine Krise gerät, tritt sozusagen in ein Gespräch mit sich selbst. In diesem Selbstgespräch gibt es einander widersprechende Willensäußerungen: Weitermachen oder aufhören? Oder anders weitermachen? Permanentes Entscheiden ist erforderlich. An manchen Punkten des Lebens fallen Entscheidungen schwer, weil die Veränderung, die sich daraus ergibt, gefürchtet wird.
Der Marathonläufer im Taxi
Es gibt keinen Beruf, in dessen Ausübung es nicht permanent zu Krisen käme. Schriftstellerinnen und Schriftsteller haben Krisen, kommen bei dem Werk, das sie schreiben wollen nicht weiter. Man kommt nicht weiter, obwohl es vorher so gut ging. Oder hat man das Werk falsch konzipiert und muss nun am Ende alles ändern – oder nochmals ganz von vorne beginnen? Es muss eine Entscheidung her und egal welche Entscheidung getroffen wird, sie passt nicht ins Konzept, sie bürdet einem noch mehr Anstrengungen auf.
Doch die Erinnerung an Krisen, die wir bereits überstanden haben, zeigt uns, dass wir den Zustand, in dem wir unsere Bemühungen für ausweglos halten, transzendieren können. Die einen reden viel darüber oder schreiben darüber dicke Bücher, die anderen können wenig oder nichts darüber erzählen. Mir kommt vor, dass es heute eine große Scheu gibt, sich diesem Zustand auszusetzen und ihn durchzustehen. Schreibende lassen sich von Tools der sogenannten KI Absätze oder Texte vorschlagen, nur um weiterzukommen. Sie sind wie ein Marathonläufer, der sich zwanzig Kilometer der Strecke mit dem Taxi fahren lässt. Dann läuft er weiter und kommt ins Ziel. Aber wenn er ehrlich zu sich selbst ist, muss er sich eingestehen, dass er kein Marathonläufer ist.
Das Leid der anderen
Andauernd ist in unserer Zeit von der Krise in der Politik die Rede. In unserem großen gegenwärtigen Wohlstand scheint es eine gewisse Lust an schlechten Nachrichten zu geben. Man kennt das ja: Menschen, die sich von Autounfällen und brennenden Häusern angezogen fühlen. Menschen, die, wenn auf dem Eislaufplatz jemand stürzt und blutend auf der Eisfläche liegt, zuallererst ein Handyfoto machen.
Diese Lust an der Krise ist vor allem eine Lust am Leid der anderen. Heute hat sie auch die Presse ergriffen. Die Boulevardpresse war immer schon voll davon; von ihr rede ich gar nicht mehr. Erstaunlicher ist schon, dass die sogenannte Qualitätspresse, die sich auch immer gerne als Warnerin vor der FPÖ hervortut, sich Tag für Tag die Finger wund schreibt, um gegen die Regierung ins Feld zu ziehen.
Manipulation durch Umfragen
In seinem Kommentar Die lähmende Angst der Regierung vor der FPÖ schreibt Michael Völker in der Tageszeitung Der Standard: »Die Innenansicht der Koalition entspricht überhaupt nicht der Wahrnehmung von außen. […] Die Außenwahrnehmung ist eine völlig andere: Die Umfragen sind verheerend, diese Regierungskoalition hätte, wären jetzt Wahlen, keine Mehrheit mehr.«
Hier sind gleich einige Fehlansichten enthalten: Umfragen sind keine Außenwahrnehmung. Außenwahrnehmung wäre die Sicht der Bevölkerung auf die Regierungspolitik. Wenn wir eine Krise der Demokratie haben, dann wird sie vor allem von den sogenannten Meinungsumfragen hervorgerufen, die uns glauben machen wollen, dass jede Woche gewählt wird. Zweitens: Viele Regierungen (auch jene mit FPÖ-Beteiligung) hatten während der Legislaturperiode nicht die Umfragewerte, die ihrem letzten Wahlergebnis entsprachen. Sollen wir täglich wählen? Die Verfassung schützt uns davor, indem die Legislaturperiode länger als eine Woche dauert. Die Veröffentlichung von Umfragen ist politische Manipulation – mehr nicht. Die Menschen wissen bei Umfragen auch, das nicht gewählt wird, und baden gerne im Schrecken wie die Menschen, die geil auf Unfälle und Brände sind.
Krise oder Aufgeben?
Vielleicht gibt es ja auch eine Krise der Qualitätsmedien, die sich nach Regierungen sehnen, die über Medien wieder einen Geldregen loslassen – wie die Kurz-Regierungen. Jedenfalls scheint auch Herr Völker eine Krise zu haben, die ihn daran hindert, sachlich über Politik zu berichten. Er schreibt lieber schon wieder vom »Kanzler Kickl«, sehnt sich also offensichtlich nach einem Wahlkampf, der in weiter Ferne liegt. Kann man ihn vielleicht herbeischreiben?
Michael Völker macht die Fälle Wöginger und Mahrer, macht Postenschacher und Multifunktionäre für eine Krise der ÖVP verantwortlich. Nun, Postenschacher und Multifunktionäre gibt es auch in der FPÖ zuhauf. Darüber wird leider wenig berichtet. Wenn die Lösung der Krise einer bürgerlich-liberalen Partei die Aufgabe des bürgerlich-liberalen Denkens ist, wenn die Lösung einer Krise der Demokratie das Aufgeben von Sachpolitik und dem Ersetzen von Wahlen durch Meinungsumfragen ist, die parteiische Institute im Auftrag parteiischer Interessenten mit suggestiver Befragung von 800 Menschen erstellt haben, dann kann der Marathonfahrer gleich am Start ins Taxi steigen und sich ins Ziel chauffieren lassen. Nur eben: Er ist kein Marathonläufer.
Eine Schimäre
In einer Krise kann und darf man es sich nicht leicht machen. Es gilt Probleme zu lösen – nicht ihre Existenz zu leugnen. Keine Partei in diesem Land hat eine schlechtere Regierungsbilanz als die FPÖ: Keine der Regierungen, der sie angehörte, hielt lang: Die SPÖ-FPÖ-Koalition von 1983 scheiterte nach der Wahl Haiders zum Parteiobmann an der Aufkündigung der Regierung durch Vranzitzky. Schüssel I scheiterte nach der Revolte von Grasser, Riess-Passer und Westenthaler an vorzogenen Neuwahlen. Im Kabinett Schüssel II übernahm das BZÖ (eine damals ungewählte Partei, die aus einer fragwürdigen Clubgründung im Nationalrat enstand) fliegend von der FPÖ. Und das Kabinett Kurz I war nach 17 Monaten Geschichte. Wo war das gute Krisenmanagement? Wo waren die gelungenen Erzählungen? Wo waren die »richtigen Personen«, die Herr Völker in der jetzigen Regierung vermisst, damals in der FPÖ – alle Figuren wurden ja ständig ausgetauscht. Der Erfolg der FPÖ ist eine Schimäre.
Hunderter verteilen
Die reine Beschäftigung mit der FPÖ ist eine Flucht vor der Krisenbewältigung. Die vielen Artikel dazu könnte man ruhig von einer sogenannten KI generieren lassen; denn sie bringen überhaupt nichts Neues in die Debatten. Und ohne etwas Neues, ohne Selbstkritik, ohne Veränderungen auch des eigenen Standpunkts wird man eine Krise nicht bewältigen können.
Da hat man jahrelang nach einer Sanierung des Staatshaushalts gerufen. Jetzt, wo sie geschieht, ist die sie durchführende Regierung in einer Krise. Ja, sicher: Sie kann jetzt nicht Hunderter auf der Straße verteilen, damit sie in dämlichen Umfragen vorne ist.
Titelbild: Miriam Moné

