Die radikale Rechte versucht, die Öffentlichkeit gleichzuschalten – indem sie Euch Angst macht, Eure Meinung zu sagen.
Unlängst war ich in einer Woche gleich drei Mal in TV-Talkshows. Ich habe mir über diese Tatsache wenig Gedanken gemacht, bis eine Kollegin eines dieser Sender sagte: „Die meisten trauen sich nicht mehr, und Du sagst immer unkompliziert zu, sofern Du Zeit hast.“
Die meisten trauen sich nicht mehr, weil sie Angst davor haben, durchs Internet gejagt oder Opfer der bekannten Einschüchterungskampagnen zu werden. Kurzum: Manchmal sitze ich drei Mal pro Woche im Fernsehen, weil die anderen nicht mehr wagen, ihre Meinung zu sagen. So krass war mir das ehrlich gesagt gar nicht klar. Aber es erinnerte mich sofort an Erfahrungen, die ich in meinen anderen Beschäftigungen mache, etwa als Theaterdramaturg, als Veranstaltungskurator und auch als Journalist: Immer häufiger ist man mit Menschen konfrontiert, die ihre Meinung nicht mehr sagen wollen – und immer häufiger auch mit Wissenschaftlern, die ihre Forschungsergebnisse nicht mehr öffentlich präsentieren möchten. Weil sie Angst haben, dass sie dann ins Fadenkreuz der Berufshetzer geraten.
Das sind mittlerweile sehr viel mehr als gelegentliche, anekdotische Episoden. Es ist eine Epidemie geworden.
Die Epidemie des Schweigens
Die allermeisten haben Angst vor den organisierten Einschüchterungskampagnen der Rechtsextremisten und Faschisten im Internet. Das ist die große Mehrheit. Manche haben auch Angst vor Angriffen von aggressiven Linken, die gerne andere Linke oder Moderate an den Pranger stellen, die in der einen oder anderen Frage eine andere Meinung haben. Das ist aber der Ausnahmefall. Und dann gibt es die hochemotionalisierten Erregungsthemen, bei denen die große Mehrheit der Leute überhaupt nichts mehr sagen will, weil man sofort ins Fadenkreuz von irgendwelchen Narren aller Spielarten kommt, wie in der Israel-Gaza-Kriegs-Frage. Wer etwa sagt, dass alle Menschen Menschenrechte haben und dass fürchterliche Massaker niemals andere fürchterliche Gräueltaten rechtfertigen, darf sich im Extremfall gleich als Antisemit diffamieren lassen. Ganz ähnlich ist das mit den Nachwehen des Corona-Themas. Suche einmal einen Wissenschaftler, der bei einer halbwegs öffentlichkeitswirksamen Diskussion retrospektiv darüber zu reden bereit ist, was seinerzeit richtig und was falsch gemacht wurde – viel Spaß damit. Die meisten vernünftigen Leute ziehen vor, überhaupt nicht mehr aufzufallen.
Gefühlt neunzig Prozent der Menschen entscheiden sich im Zweifel dafür, die Klappe zu halten, und meistens sind es gerade die Menschen, die ambivalente Haltungen haben und eher zu den klugen, abwägenden Einerseits-Andererseits-Ansichten neigen. Sie müssen im schlimmsten Fall damit rechnen, gleich von zwei Extrempositionen niedergemacht zu werden.
Verleumdung und Diffamierung
Die verschiedenen Ursachen dafür sind offensichtlich, auch wenn wir gut daran tun, sie auseinanderzuhalten. Manches ist ungeplant, chaotisch, ergibt sich von selbst, ist Folge des Strukturwandels der Öffentlichkeit. Auf den verschiedensten Social-Media-Plattformen klicken Empörung und Erregung am besten, und fast immer regiert bald der Herdentrieb. Wenn jemand vernünftige Sachen sagt, aber bei einem Nebenaspekt eine kontroverse Meinung vertritt und dann auch noch einen oder zwei Sätze sagt (manchmal reicht auch ein Halbsatz), der zum sattsam bekannten, böswilligen, vorsätzlichen Missverstehen einlädt – der hat dann gleich die Arschkarte gezogen. Erst fallen ein paar Dutzend Leute über ihn her, dann gleich hunderte mehr, und die gleichgeschalteten Brüllaffen im Internet schaukeln sich noch wechselseitig hoch. Und all jene, die finden „der hat ja eigentlich recht“ (oft die Mehrheit), schweigen, aus Angst, selbst ins Fadenkreuz zu kommen. Wenn man das nicht gewohnt ist und sich eine dicke Haut wachsen hat lassen, macht einem das fertig und man wird vorziehen, künftige Einladungen auszuschlagen. Wie gesagt: Hier braucht es niemanden, der die Shitstorms orchestriert und plant, so etwas funktioniert ganz von alleine im medialen System mit seinen Gesetzmäßigkeiten, die wir eingeführt haben.
Ich kenne hartgesottene und gestandene Journalistinnen und Journalisten, die immer seltener in ihren Zeitungen Kommentare schreiben – einfach um die wöchentlichen Hasswellen zu vermeiden, die regelmäßig über sie hereinbrechen. Und wozu „erzieht“ das junge Kolleginnen und Kollegen, die gerade erst ihr berufliches Profil entwickeln? Zu Angst, Vorsicht, Unehrlichkeit, Schweigen, zum Vermeiden, was allesamt nicht zu den Tugenden des Autorenberufs zählen sollte.
Hassportale gegen die Meinungsfreiheit
Das noch größere Problem ist, dass die Rechtsradikalen und die neuen Faschisten erkannt haben, welche Möglichkeiten ihnen dieser Strukturwandel der Öffentlichkeit bietet. Nämlich: Das, was manchmal ganz von selbst geschieht, kann man auch organisieren. Sie fahren Einschüchterungs- und Rufmordkampagnen, um ihre Gegner aus der Öffentlichkeit zu drängen, mundtot zu machen und um sie vorsätzlich einzuschüchtern. Die Trump-Regierung und das mediale Ökosystem, das um die faschistische MAGA-Bewegung entstanden ist, hat es perfektioniert: Angst verbreiten, um Opposition und Dissidenten fertig zu machen. Dass die Tech-Oligarchen selbst Teil der MAGA-Bewegung geworden sind (oder aus Angst zu Kreuze gekrochen sind), erleichtert ihnen dieses Zerstörungswerk ungemein.
Am vergangenen Samstag war ich von der hiesigen Sektion der „Democrats Abroad“, also von der Demokratischen Partei der USA eingeladen worden, bei einem Event im Rahmen der großen Protestaktionen gegen die Trump-Regierung zu sprechen. Ich sagte unter anderem: „Mit dieser Politik der Angst wollen sie die Gegenwehr lähmen und die Opposition einschüchtern. Sie wollen Angst verbreiten, damit die Kritiker die Klappe halten. Sie nützen schreckliche Verbrechen, um die Errichtung einer autoritären Herrschaft voranzubringen. Sie missbrauchen Verbrechen, um die Freiheit zu zerstören. Es ist das Playbook der Autoritären, das Handbuch zur Errichtung einer Tyrannei.“
In unseren Breiten haben die Rechtsextremisten zu diesem Zweck planmäßig ein Netzwerk aus Pseudo-Medien gegründet, das neben der Desinformation vor allem den Zweck verfolgt, Andersdenkende zu verfolgen – Hassportale wie NIUS in Deutschland oder Exxpress in Österreich und andere. Viele übrigens von Multimillionären und Milliardären finanziert, um unsere Demokratien und die Freiheit zu zerstören. Dafür engagieren sie allerlei gescheiterte Existenzen als Schreihälse.
Mit der Kampagne gegen die Verfassungsgerichts-Kandidatin Frauke Brosius-Gersdorf haben sie in Deutschland einen Sieg errungen, der sie noch einmal angestachelt hat. Danach haben sie sich die Journalisten Dunja Hayali und Elmar Theveßen vorgeknöpft. Und das waren nur die prominentesten Fälle. Diese Kampagnen zielen zwar vordergründig auf die betroffenen Opfer, aber in Wirklichkeit auf uns alle, denn die Botschaft heißt ja: Wenn ihr den Kopf rausstreckt, dann passiert mit Euch das gleiche. So funktionieren schließlich Einschüchterungskampagnen. Man muss nur drei Leute fertig machen, damit tausende andere zum Schweigen gebracht werden.
Es ist nämlich so: Sie sind nicht hinter uns wenigen Leuten her, die ihnen öffentlich die Stirn bieten. Sie sind hinter Euch her, wir stehen ihnen nur im Weg.
Das Ziel ist schließlich: Die Gleichschaltung der Öffentlichkeit, die Unterdrückung von Gegenrede. Und wie wir oben gesehen haben: Es wirkt ja. Am Ende sitzen die paar, die sich nicht einschüchtern lassen, in jedem Fernsehstudio, weil viele andere berechtigt Angst haben.
Mittlerweile geht das so weit, dass selbst die Moderateren unter den Rechtsradikalen zu „Opfern“ dieses Systems werden, das sie geschaffen haben: der Mob macht auch vor ihnen nicht Halt, wenn sie in einem oder zwei Aspekten abweichen oder versuchen, einen Duktus der Restvernunft zu pflegen. Die autoritäre Konterrevolution frisst ihre Väter und Mütter.
Verzerrung des Meinungsklimas
Das Ergebnis ist nicht nur die Unterdrückung dissidenter Ansichten und der Meinungsfreiheit, sondern die Verzerrung des Meinungsklimas. Wenn die radikale Rechte auf allen Kanälen trommelt, Menschen mit abweichenden Meinungen aber die Klappe halten, dann entsteht der falsche Eindruck, dass verdammt viele Menschen die Meinungen der Rechtsradikalen vertreten. Die kommunikationswissenschaftliche Forschung spricht in diesem Zusammenhang vom Phänomen der „Mehrheitsillusion“ oder der „Kollektivillusion“. Menschen haben den Eindruck, dass sie mit ihren Ansichten in der Minderheit sind, obwohl sie in Wahrheit in der Mehrheit sind – weil die Millionen Menschen, die ihre Meinungen teilen, einfach nicht mehr vorkommen. „Diese Dynamik der Kollektivillusion beschädigt nicht nur unsere Demokratie, sondern auch unser individuelles Wohlbefinden“, erklärte der Wirtschaftswissenschaftler und Soziologe Arthur C. Brooks gerade in einem großen Essay des US-Magazins „The Atlantic“. 61 Prozent der Befragten in einer US-Studie sagen bereits, dass sie „Self-Silencing“ betreiben, also verstummen und ihre Meinung nicht offen sagen.
Wie das unsere Demokratie beschädigt, ist offensichtlich. Aber wie beschädigt es das Wohlbefinden? Menschen wollen einerseits die Wahrheit sagen, aber andererseits auch in ihren jeweiligen Gruppen anerkannt sein, was die Bereitschaft erhöht, sich Konformitätsdruck zu beugen. Beides lässt sich aber nicht unter einen Hut bringen. Menschen passen sich daher häufig den scheinbaren Mehrheitsmeinungen an – was sie aber unglücklich macht, weil sie spüren, dass sie lügen und ihre eigentlichen Auffassungen nicht mehr offen sagen. Sie sind quasi gefangen in einer Doppelmühle des Unglücks: Entweder lügen sie, was sie unglücklich macht. Oder sie stellen sich gegen die scheinbare Mehrheitsmeinung und werden diffamiert – was sie ebenso unglücklich macht.
Es ist hoch an der Zeit, zu widerstehen und diesen Mechanismen nicht mehr nachzugeben. Macht die Klappe auf, haltet dagegen! Gebt nicht der scheinbar bequemen Versuchung nach, das, was Ihr denkt, für Euch zu behalten (oder, schlimmer noch, Dinge zu sagen, die ihr gar nicht denkt, um Euch negative Reaktionen zu ersparen). Denn es hat einen hohen Preis, in der Lüge zu leben. Jeder und jede spürt ihn. Euer Schweigen, für das jeder und jede Einzelne gute Gründe hat, ist Teil ihrer Strategie zur Machtergreifung. Die Empörung muss die Seite wechseln: Wer andere diffamiert und den Menschen mit Einschüchterungskampagnen ihre Meinung verbieten will gehört an den Pranger.
Titelbild: Miriam Moné
