Samstag, Dezember 6, 2025

Der Totalitarismus der Cancel-Culture

Der totalitäre Regierungsstil Donald Trumps hat die Cancel-Culture zu seiner Methode gemacht. Bevölkerung und Medien sehen zu, wie er seine Feindbilder ausruft und ihre vermeintlichen Anhänger ausschaltet. Und viele machen in vorauseilendem Gehorsam sogar mit.

Kein Phänomen ist ein neues Phänomen, nur weil es einen neuen Namen bekommt. So ist es mit Fake-News. So ist es mit Cancel-Culture. So ist es mit allem. Benennung ist nicht Distinktion. Die Zuordnung des sprachlichen Ausdrucks zum Bezeichneten sagt nichts über das Zeichen aus. Das hat Ferdinand de Saussure, der Begründer der modernen Sprachwissenschaft mit seinem ersten Grundsatz von der Beliebigkeit des Zeichens zum Ausdruck gebracht und ausgeführt.

Was heute als Cancel-Culture bezeichnet wird, eine Form von Agitprop, die Donald Trump in den USA nun zur vorherrschenden politischen Methode macht, ist eine durch und durch autoritäre Praxis. Sie hat natürlich schon immer existiert – nur unter anderen Namen. Es ist ein Symptom der Oligarchie, in der wir heute leben, dass sie – wie alle autoritären oder totalitären Systeme – dialektische Geschichtsbetrachtung ausblendet. Wenn es im Totalitarismus Geschichte überhaupt gibt, so wird sie neu geschrieben und alle anderen oder früheren Betrachtungsweisen werden eben auch Opfer der Cancel-Culture.

Sprachrohr von Frustrationen und Kränkungen

Der Ansatz der Cancel-Culture ist ein rein negativer: Sie will dafür sorgen, dass etwas nicht stattfindet, nicht veröffentlicht werden darf, nicht gesagt werden darf, nicht getan werden darf. Mit den sogenannten Sozialen Medien konnte sie vor allem deshalb groß werden, da man bald bemerkt hat, dass dort das Negative, die Gegnerschaft und Feindschaft, ein Motiv ist, das die Menschen mehr anzieht als das Positive: Befürwortung oder Solidarisierung.

Als Sprachrohr der Frustrationen und Kränkungen der Menschen, die freilich ihre Ursachen ganz woanders haben, als in den Angelegenheiten, wo sie – immer unantastbar als »Volk« und niemals als Individuum, dem man auch widersprechen und entgegnen kann – auftreten, haben sich Online-Räume als Brutkästen entsachlichter Feindseligkeit bewährt. Sie haben sich so sehr bewährt, dass dieselbe Methode nun auf der politischen Bühne der Welt beherrschend geworden sind. Der woke Präsident Trump benutzt seine Wokeness, um zwei Feindbilder zu schaffen: Erstens die freie Berichterstattung, die es in den USA zum Teil noch gibt. Zweitens »die Linken«, die es in den USA seit Jahrzehnten nicht mehr gibt.

Der Druck einer radikalen Minderheit

Als 2022 der Konzern Ravensburger-Verlag ein Begleitbuch zum Kinderfilm »Der junge Häuptling Winnetou« herausbringen wollte, kam es angeblich zu einem »Shitstorm«. Doch wie die GPI damals berichtete, war es eine sehr kleine Minderheit, die diese Aufregung überhaupt erst erzeugt hatte: »Eine Datenanalyse des Content-Marketing-Spezialisten Scompler legt nahe, dass der seitdem durch die Schlagzeilen rasende Winnetou-Shitstorm mehr Erfindung denn genuine Aufregung ist – und als Medienversagen gesehen werden kann. Ravensburger sei vor dem Druck einer radikalen Minderheit eingeknickt.«

Der erste Schritt der Cancel-Culture im Vorgehen gegen ihre Feindbilder ist also die Schaffung einer vermeintlichen, weil nur scheinbaren demokratischen Legitimation. An dieser Stelle haben Demokratien ihre Schwachstellen, weil sie sich für Dynamiken, die im World-Wide-Web stattfinden, erst langsam und viel zu spät rüsten. An dieser Stelle haben aber besonders die Medien ihre Schwachstellen, weil sie allzu gerne übernehmen und berichten, was auch nur scheinbar einer »Aufregung« oder einem »Skandal« gleichkommt, oder letzteres überhaupt erst selbst erzeugen.

Paradoxe Motivation

Donald Trump, ein Terrorist dieser radikalen Minderheit, der heute wahrscheinlich nur mehr ein Machwerk seiner Pressesprecher und Einsager ist – denn seine wirklichen Statements, wenn sie nicht von Journalisten und Sprechern zu verständlichen Sätzen gemacht werden, sind meist unverständlich und völlig gegenstandslos – hat nun das Canceln zu seinem Metier gemacht. Und es funktioniert deshalb so gut, weil erstens darüber auch in Qualitätsmedien oft nicht mehr sachgemäß und wahrheitsgemäß berichtet wird, und weil zweitens – wie so oft in einer totalitären Terrorherrschaft – viele in vorauseilendem Gehorsam einknicken und das tun, wovon sie glauben, dass es von ihnen verlangt wird.

Diese sehr gefährliche Situation führt zur Fortpflege absurder Feindbilder und dem, was man in der Psychologie als paradoxe Motivation bezeichnet. Wir kennen das aus der Zwischenkrigeszeit in Österreich. Hier begann man Sozialdemokraten und Sozialisten zu verfolgen. Als Bundeskanzler Dollfuß schließlich von einem Nationalsozialisten ermordet wurde, suchte man nicht einen Schulterschluss aller demkoratischen Elemente und versuchte sich zusammen mit Sozialdemokraten und Sozialisten gegen den Nationalsozialimus zu stellen; im Gegenteil: man begann Sozialdemokraten und Sozialisten noch grimmiger zu verfolgen und zu vertreiben.

Es gibt keine Linken in den USA

In den USA gibt es keine Linken. Und auch die wenigen sozialistischen, kommunistischen und anarchistischen Bewegungen, die einmal existierten, ohne jemals politische Bedeutung gehabt zu haben, wurden beginnend mit dem Mord an McKinley im Jahr 1901 bis zum Wirken McCarthys ausgelöscht oder vertrieben. Selbst Upton Sinclair, einst Mitglied der Sozialistischen Partei, trat im Jahr 1934, als er für den Posten des Gouverneurs von Kalifornien kandidierte, der Demokratischen Partei bei, um eine Chance zu haben. Er gewann die Wahl dennoch nicht.

Die »Linke« ist ein Phantasma des woken Trump, die in seiner Agitprop die wichtige Funktion hat, dass er jede Feindin und jeden Feind dazu ernennen und damit brandmarken kann. Aus dem Mord an Charlie Kirk ergibt sich jedenfalls überhaupt kein Motiv, gegen »Linke« oder Antifaschisten vorzugehen. Es ist umgekehrt: Zuerst war der politische Wille zur Verfolgung Andersdenkender da; dann erst folgte die Ermordung Kirks.

Keine Geschäfte mit totalitären Staaten

Was nun alles gecancelt werden wird – von Kabarettisten, Journalisten, Büchern, Universitäten, Forschung, Wissenschaft, Medizin, bis hin zur Demokratie – wird ohne Legitimation gecancelt. Das Canceln funktioniert nur, wenn die Menschen und die Medien es dulden. Das darf man nicht tun. Man muss sich dem Canceln früh genug entgegenstellen.

Daher sind die Außenminister aller Staaten gut beraten, ihre Botschafter aus den USA einzubestellen, und den Vereinigten Staaten klar zu machen, dass Diplomatie mit Verbrecherstaaten nicht betrieben wird. Gerne helfen wir dabei, die Demokratie wieder aufzubauen, wie auch uns von den Amerikanern einmal geholfen wurde. Aber Geschäfte mit dem Totalitarismus sollten unserem Selbstverständnis und unserem Anstand widersprechen.


Titelbild: Miriam Moné

Autor

  • Daniel Wisser

    Daniel Wisser ist preisgekrönter Autor von Romanen und Kurzgeschichten. Scharf und genau beschreibt er, wie ein Land das Gleichgewicht verliert.

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