Österreich ist das einzige Land, in dem der Führer einer aggressiven Rechtspartei im Schlaf die Macht übernimmt. Der Grund dafür liegt in einer österreichischen Besonderheit: dem Tiefschlaf der Regierung. Jetzt droht der Pilnacek-Untersuchungsausschuss alle aufzuwecken.
In der Schule in Kapfenberg haben wir das Entscheidende über das Gleichgewicht gelernt: Wenn eine Kugel am tiefsten Punkt einer Schale angelangt ist und sich von selbst nicht mehr bewegen kann, befindet sie sich im absoluten Gleichgewicht. Unsere vorliegende Regierung ist alles andere als eine Kugel, aber die gemeinsame Position, die ÖVP, SPÖ und NEOS in ihr erreicht haben, ist so gut beschrieben. Nur eines unterscheidet sie von dem, was uns der Lehrer vorgeführt hat: Die Schale selbst steht schief geneigt zur rechten Seite.
Das Muster dahinter erkennt man, wenn es um den Kampf gegen die Inflation geht. Die SPÖ will die Preistreiber von den Energiekonzernen bis zu den Lebensmittelketten zur Kasse bitten und bewegt sich dabei. ÖVP und NEOS pfeifen sie zurück. Die SPÖ will mit den Reichsten die Gruppe der großen arbeitslosen Einkommen besteuern. ÖVP und NEOS pfeifen sie zurück.
Inzwischen gilt das auch für andere Bereiche: Die SPÖ will Schusswaffen in Privatbesitz verbieten. NEOS und ÖVP pfeifen sie zurück.
Die Kugel bleibt immer am tiefsten Punkt. Nur wenn sich ÖVP und NEOS das fehlende Geld bei Pensionistinnen holen wollen, neigt sich die Schale, und die SPÖ rollt mit.
SPÖ vorne
An den Personen, die in der Regierung sitzen, kann es nicht liegen. Die Minister und Ministerinnen der SPÖ liegen von Fachkompetenz bis Beliebtheit bei allen Umfragen weit vor ihren Kollegen aus den beiden anderen Parteien. Alle glauben dem Finanzminister, dass er versucht, das Beste aus dem, was er darf, zu machen. Kleine Spielräume wie die bei den ebenso großen wie hochkriminellen Steuerhinterziehern versucht er zu nützen. Aber am Konstruktionsprinzip seiner Regierung kann auch er nichts ändern: Die Kugel ist mit türkis, rot und pink dreifärbig, auf der türkis-pinken Schale fehlt das Rot.
Christian Stocker vertritt das alles als Bundeskanzler glaubwürdig. Sein Ziel ist die absolute Ruhe, und als erfahrener Anwalt und Lokalpolitiker weiß er, dass der absolute Stillstand dafür die beste Voraussetzung ist. Die ruhigen Schlafgeräusche von dort, wo man die Opposition vermutet, scheinen ihm recht zu geben.
Mehr Kühe als Menschen
Warum die Grünen schlafen, weiß ich ehrlich gesagt nicht. Bei der FPÖ scheint die Antwort einfacher: Herbert Kickl hat das Arbeiten nicht erfunden. Er geht gern auf die schönen heimischen Almen, und vieles deutet darauf hin, dass er seit seinem Verzicht auf die Kanzlerschaft mehr Kühe als Menschen gesehen hat. In seiner Partei und in seinem Klub versucht man zu erahnen, was der Chef will, und weil das nicht viel ist, liegt man selten daneben.
Wahrscheinlich geht das weltweit derzeit nur in Österreich: dass der Chef einer aggressiven Rechtspartei die Macht im Halbschlaf übernimmt. Orbán, Putin, Erdogan, Netanjahu, Meloni, sogar Trump – sie alle mussten kämpfen. Nur Kickl gibt es der Herr im Schlaf. Über den Herrn selbst weiß man nur, dass er ein Parteibuch der ÖVP hat.
Alles blockiert
Aber woher kommt der völlige Stillstand? Er kommt, das kann man im Umgang der ÖVP mit der FPÖ feststellen, nicht vom Starren des türkisen Kaninchens auf die blaue Schlange. Der Stillstand ist seit langem der bestimmende Faktor im Umgang der ÖVP mit den großen Veränderungen.
Begonnen hat das alles mit den Grünen und ihrer Ökologie. Als wir 1986 ins Parlament einzogen, versuchten wir die Wirtschaftspartei davon zu überzeugen, dass die grüne Umwälzung die Wirtschaft nicht aushungern, sondern ihr gewaltige neue Chancen eröffnen würde. Wir zeigten, wo und wie man die neuen Batterien und die neuen Solarpanele entwickeln und bauen könnte. Wir holten dazu sogar einen Wirtschaftsprofessor ins Parlament. Heute können wir uns in China ansehen, was in Österreich nicht möglich war.
Genau dasselbe passiert seit mehr als zwei Jahrzehnten an den Eingängen in die neue digitale Welt. Auch hier war die kommunistische Partei Chinas und nicht die Volkspartei Österreichs die Wirtschaftspartei der Zukunft.
Pilnacek bewegt
Die ÖVP hat alles blockiert, weil sie bis heute die Wirtschaftspartei der Vergangenheit ist. Sie ist fossil, in jeder Hinsicht. Das – und ihre Bereitschaft, jederzeit mit der FPÖ ins Bett zu gehen – ist der Grund, warum der Stillstand nur unter einer Voraussetzung überwunden werden kann: wenn die ÖVP nicht mehr regiert.
Und da kommt jetzt Pilnacek ins Spiel. Der Untersuchungsausschuss, den die FPÖ in der kommenden Woche im Nationalrat beantragen wird, bringt Bewegung in die Schale. In fast allen Fragen können sich SPÖ und NEOS weiter ruhig stellen. Im U-Ausschuss geht das nicht. Dort werden ihre Abgeordneten Fragen stellen. Dort geht es um Sobotka, Kurz, Takacs, Nehammer und einen Nationalratsabgeordneten namens Stocker. Dort steht für die ÖVP das Wichtigste, das ihr geblieben ist, auf dem Spiel: die totale Macht in Innenministerium und Polizei.
Und damit geht es um alles.
