Mittwoch, Dezember 31, 2025

Das neue Abnormal

Was wir erleben, ist kein Ausrutscher, kein Betriebsunfall, kein Einzelfall. Es ist ein System der Gewöhnung. Jeder Skandal wird relativiert, bis er sich nahtlos in den nächsten einfügt. Empörung wird kurz erlaubt, fast schon ritualisiert, solange sie folgenlos bleibt. Und dann kann man sie immer noch lächerlich machen.

Es ist bemerkenswert, wie schnell sich ein Land an Dinge gewöhnt, die es eigentlich empören müssten. Chats, die klingen wie aus einer schlechten Satire. Machtmissbrauch, der als Missverständnis verkauft wird. Eine Sprache, die nach unten tritt und sich dabei „realistisch“ nennt. Knapp vor Weihnachten noch ein heftiger türkiser Tritt gegen eine Minderheit, ein kalkulierter Tritt, der vor allem die Koalitionspartner unter Druck setzen soll und die blaue Opposition erfreuen. Und über allem schwebt dieser Satz, der alles beruhigt: So ist Politik halt. So ist es nun mal. Ungeachtet dessen, dass der Präsident festhalten musste: Wir sind nicht so.

Nein. So ist sie nicht halt. Sie wird nur dazu gemacht. Und wir zu einem groben Teil auch. Weil man sich gewöhnt, weil der Geist aus der Flasche ist, der stets verneint, und zwar alles, was nicht der eigenen Klientel angehört. Wie man ihn wieder zurückbekommt: ungewiss. Die Verrohung ist derzeit ein weltweites Phänomen und social media sind ihre Herolde.

Was wir erleben, ist kein Ausrutscher, kein Betriebsunfall, kein Einzelfall. Es ist ein System der Gewöhnung. Jeder Skandal wird relativiert, bis er sich nahtlos in den nächsten einfügt. Empörung wird kurz erlaubt, fast schon ritualisiert, solange sie folgenlos bleibt. Und dann kann man sie immer noch lächerlich machen. Danach soll bitte wieder Ruhe einkehren. Stabilität nennt man das dann. Oder Verantwortung. Oder staatstragend.

Wer erschöpft ist, fragt weniger

Dabei ist genau diese Müdigkeit politisch gewollt. Wer erschöpft ist, fragt weniger. Wer alles für gleich schlimm hält, unterscheidet nicht mehr. 

Besonders effizient für die Verrohung ist die Entmenschlichung. Sie spart Argumente. Man spricht nicht mehr über soziale Realität, sondern über „Belastungen“. Nicht über Menschen, sondern über „Systeme“. Nicht über Würde, sondern über Kosten. 

Gleichzeitig wird Kritik delegitimiert. Journalismus gilt als lästig, Zivilgesellschaft als naiv, Solidarität als Luxusproblem. Das ist kein Zufall, sondern Methode. Denn nichts ist gefährlicher als Erinnerung und Kontext.

Demokratie lebt nicht vom Konsens, sondern vom Widerspruch. Sie braucht Menschen, die sich nicht einreden lassen, dass das alles alternativlos sei. Dass Sprache keine Konsequenzen hat. Dass man nach unten treten darf, solange es nach oben ruhig bleibt.

Die eigentliche Frage ist nicht, wie viel man noch ertragen kann. Sondern, warum man sich einreden lässt, dass man es muss.

Autor

  • Julya Rabinowich

    Julya Rabinowich ist eine der bedeutendsten österreichischen Autorinnen. Bei uns blickt sie in die Abgründe der Republik.

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