Dienstag, Dezember 16, 2025

Man scheint sich gewöhnt zu haben

Osteuropa-Experten wie Karl Schlögel schätzen die Lage in der Ukraine richtig ein. Aber ist ihre Antwort darauf – nämlich die Aufrüstung Europas – wirklich die richtige und einzige denkbare?

Es war ein Interview, auf das ich mich davor sehr gefreut habe, das mich aber mit mehr Fragen zurückgelassen hat, als beantwortet wurden. Am Samstag, 13. Dezember 2025, war der Osteuropa-Experte und in diesem Jahr mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnete Karl Schlögel in die Sendung Im Journal zu Gast in Ö1 eingeladen. Andreas Pfeifer hat ihn interviewt.

Schlögel analysiert, dass weder Putins Russland den Krieg in der Ukraine aufgeben wird noch die Ukrainer mehrheitlich für eine Kapitulation (oder die jetzt vom Westen geforderte Teilkapitulation mit Gebietsabtretungen) sind. Und er analysiert das Verhalten in Westeuropa als eine traurige Gewöhnung an das Ungeheuerliche:

Karl Schlögel: Damals [gem. ist: im Jahr 2022, Anm.d.Verf.] gab es ja den Schock. […] Was jetzt der Fall ist, ist: Man scheint sich gewöhnt zu haben, daran, dass Tag und Nacht ukrainische Städte angegriffen werden können. Und man fragt sich, warum geht niemand auf die Straße? Es finden keine Demonstrationen statt, obwohl Krieg in Europa stattfindet. Und das ist eigentlich eine Ungeheuerlichkeit. Das wird eine sehr harte Auseinandersetzung, die auf uns zukommt. Wir sind ja erst am Anfang.

Kniefall statt Nationalstaatlichkeit

Das ist so wahr, wie es bitter ist. Und Schlögel sieht auch in Westeuropa einen fragwürdigen Pazifismus oder Schein-Pazifismus bei jenen Parteien, die die Lösung darin sehen, Putin alles zuzugestehen, was er fordert. Hier nennt er die AfD in Deutschland und die FPÖ in Österreich: Parteien, deren Vertreterinnen und Vertreter symbolisch und sogar tatsächlich vor Putin auf die Knie fallen. Sie gelten als starke Stimmen – Stimmen für das kriegsführende Russland:

Karl Schlögel: Ich bin sicher, dass diese Stimmen nicht nur da sind, sondern stärker werden. Also: Frieden um jeden Preis, Preisgabe der Ukraine, Frieden zu russischen Bedingungen. Der Augenblick, wo sie wieder hervortreten werden, wir wieder kommen, in dem Augenblick, wo einfach die Belastungen und die Schwierigkeiten, die zu bewältigen sind in der deutschen Gesellschaft (es gilt ja auch für Frankreich, für England, für Italien, für Österreich) – sie sind die Bewirtschafter der Angst. Das läuft hinaus auf die Preisgabe der Ukraine, aber auch die Preisgabe Europas.

In der Tat sind es diese Parteien, die auf europäischer Ebene ständig mehr Nationalstaatlichkeit und nationale Eigenständigkeit fordern, die in der Energie- und Außenpolitik ihr Land aber in Wahrheit völlig aufgeben und entmachten wollen. Mit ihrem angeblichen Patriotismus hat es also nicht mehr auf sich, als den Willen, sich der erstbesten militärischen Übermacht bedingungslos auszuliefern, wie es Österreich 1938 schon einmal getan hat.

Friedrich Merz‘ Orbán-Kontakte

Doch Schlögels Schlussfolgerungen gehen mir nicht weit genug. Er kritisiert die CDU/CSU nicht mit derselben Konsequenz. So sagt er über Friedrich Merz:

Karl Schlögel: Aus seinen Wortmeldungen und Erklärungen geht hervor, dass er verstanden hat, dass es eine wirkliche Bedrohung gibt, der man sich stellen muss. Die Hauptfrage ist aber, ob er die Standfestigkeit, die Entschiedenheit, die Courage hat, das auch dann durchzusetzen. Dass man den Mut hat, der Gesellschaft, der Bevölkerung zu erklären, was auf sie zukommt. Nicht panisch, nicht hysterisch, sondern zu sagen, dass die Aufrechterhaltung eines guten Lebens ihren Preis hat. Und jetzt, nachdem sozusagen der Gratis-Schutz – wenn man das so sagen darf – Amerikas wegfällt, dass man selber dafür einzustehen hat. Und das kostet etwas. Es wird ein sehr schwerer, dramatischer, mit Spaltungen und hoffentlich mit neuen Allianzen verbundener Kampf sein.

Friedrich Merz ist bisher nicht nur eine Abgrenzung von Trump schuldig geblieben und hat sich Netanyahu angebiedert, wofür er in der deutschen Presse scharf kritisiert wurde (Ich habe letzte Woche an dieser Stelle aus den Artikeln zitiert). Merz pflegt auch eine Nähe zu Russland, und zwar über eine auf Umwegen durch russische Gasimporte finanzierte Budapester Denkfabrik, das Mathias Corvinus Collegium. So nahe steht Merz diesem marktradikalen und den Ausstieg aus dem fossilen Ausstieg finanzierenden Institut, dass es sogar eine ungarische Übersetzung von Merz‘ Buch Neue Zeit, neue Verantwortung finanziert und herausgegeben hat.

Das Aus vom Verbrenner-Aus ist ein Kniefall vor Russland

Wenn EVP-Chef Manfred Weber dieser Tage euphorisch das Aus vom Verbrenner-Aus verkündet, so feiert er nicht nur einen ökologischen Rückschritt. Er feiert damit, dass man sich weiter und stärker von Gas- und Öllieferungen aus Russland und vor allem der von Putin kontrollierten Satellitenstaaten (allen voran Aserbaidschan) abhängig macht. Diese Politik ist genau dieselbe, wie die der AfD und der FPÖ; nur dass sie sich scheut, ihre Unterstützung für Orbán und Putin offen zuzugeben. Die dubiosen Verbindungen der CDU/CSU mit dem Mathias Corvinus Collegium und über die Agentur TheRepublic müssen offengelegt und auch auf Geldflüsse untersucht werden.

Wenn Karl Schlögel also einer europäischen Aufrüstung das Wort redet, sollte er nicht vergessen, dass es neben dem Schein-Pazifismus der AfD, der FPÖ, der CDU/CSU und der ÖVP, auch noch einen anderen Pazifismus gibt: den wirklichen Pazifismus, der sich gegen Krieg und Aufrüstung wendet. Einst hat Schlögel diesem Lager angehört:

Karl Schlögel: Ich war Kriegsdienstverweigerer in Zeiten des amerikanischen Krieges gegen Vietnam. Ich habe einen großen Respekt vor diesen prinzipienfesten Pazifisten, die auch bereit sind, dafür den Kopf hinzuhalten und ins Gefängnis zu gehen. Ich bin gegen einen sozusagen kommoden Pazifismus, der sich ausruht in dieser Comfortzone (also: die Ukrainer bezahlen dafür, dass wir in Ruhe leben können). Und diesen kommoden Pazifismus, den halte ich für anfällig und für in gewisser Weise auch korrupt und verlogen.

Die Anfänge sind schon da

Es ist ein wenig seltsam zu glauben, dass die US-amerikanischen Kriege mit dem Vietnamkrieg aufgehört haben. Was ist mit dem Irak, Libyen, Afghanistan und vielen anderen? Auch die Wehrpflichtsdiskussion geht weit an der Realität vorbei: Wir sehen heute schon an den Kriegen der USA und Russlands, dass sie immer stärker in den Schichten armer Zuwanderer und Armutsgefährdeter Soldaten rekrutieren müssen, weil Menschen aus der Wohlstandsgesellschaft nicht mehr dazu bereit sind, für einen wahnsinnig gewordenen Staatschef in den Krieg zu ziehen. Schlögels Argument:

Karl Schlögel: Nein, es ist eine neue Diskussion. Und das habe ich im Unterschied zu meiner Wehrdienstverweigerungszeit schon verstanden. Es ist legitim und es ist richtig, über die Verteidigung der eigenen Lebensverhältnisse (oder pathetisch gesprochen: für die Verteidigung der Demokratie, der Freiheit) – dafür einzutreten. Man muss den Anfängen wehren. Und man hat verstanden, dass das Nazi-Reich nur gestürzt werden konnte, weil es eine Wehrhaftigkeit und weil es einen bewaffneten Kampf der Alliierten und der Widerstandsbewegung in Europa gegen das Hitler-Reich gegeben hat.

Auch das greift mir – es tut mir leid – zu kurz, vor allem für einen 68er. Sollte die erste Lehre aus dem Nationalsozialismus nicht die sein, dass man bereits den Griff der Faschisten nach der Macht verhindert? Genau das bedeutet doch, den Anfängen wehren.

Mit Parteien, die Trump, Putin und Orbán nichts entgegenzusetzen haben, oder die in der EU um die Unterstützung der Neofaschistin Meloni buhlen, ignoriert man aber genau diese Anfänge. Die Anfänge sind schon da: Sie regieren in Mitgliedsstaaten der EU, wie zurzeit in Ungarn und Italien.


Titelbild: Manon Véret

Autor

  • Daniel Wisser

    Daniel Wisser ist preisgekrönter Autor von Romanen und Kurzgeschichten. Scharf und genau beschreibt er, wie ein Land das Gleichgewicht verliert.

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