„White Lotus“ & Co: Wie Kapitalismuskritik Netflix und das Fernsehen erobert.
Unlängst habe ich wieder eine dieser vielgefeierten Netflix-Miniserien gesehen. „Das Reservat“ hieß sie und sie fügt sich ein in ein bemerkenswertes zeitgenössisches Genre: Gesellschaftskritik, die die Dekadenz der Reichen anprangert und die moralische Verfaultheit unserer Epoche. Der Plot: In einem noblen Vorort Kopenhagens verschwindet ein philippinisches Au-Pair, und die Aufklärung des Verschwindens – des Verbrechens – legt die Verlogenheit und Verkommenheit der Upper Class dar, in all ihren Spielarten.
Da ist der Wirtschaftsanwalt, der jede moralische Norm missachtet, da ist ein ganzes Milieu, dem es nur um seine ökonomische Gesetteltheit geht, um die Gier und das Mehr. Da ist die Gattin des Anwaltskollegen, die ihre gutmenschlichen Phrasen drischt, letztendlich aber, wenn es darauf ankommt, die Hilferufe der Beladenen und Beleidigten überhört, ja, vorsätzlich ignoriert. Sie will in ihrer Wohlfühlblase nicht gestört werden. In gewisser Weise ist sie kaltherziger als die echten Schurken und ihr menschenfreundliches Gerede nichts als ein ödes Lippenbekenntnis.
Die gute Böse ist um nichts besser als die bösen Bösen.
Das entfremdete Leben der Superreichen
Vor allem: All die Reichen erweisen sich als Menschen mit viel Leere im Leben. Ihr ganzes Geld macht sie nicht glücklich. Ihre Kinder sind wohlstandsverwahrlost, niemand kümmert sich um sie, ihre ich-bezogenen Eltern geben ihnen keine Liebe. Dass die Welt ein Kriegsschauplatz ist, eine permanente Kampfeszone, vom Kältestrom durchzogen, bekommen sie früh mit, es formt ihren Charakter. Im schlimmsten Fall werden sie von ihrer Umwelt zu Monstern erzogen.
All das erinnert an die gefeierten Groß-Serien dieses Genres, wie etwa „White Lotus“ oder „Succession“. „White Lotus“ ist eine Serie, die demnächst in die vierte Staffel geht. Jede wird in einem Luxus-Ferienressort gedreht, sei es in Hawaii (Staffel I), in Sizilien (Staffel II) oder in Thailand (Staffel III). Sehr reiche Menschen suchen in herrlicher Umgebung unter anderen sehr reichen Menschen den Ausstieg aus dem Alltag. Das erzählt allein schon von der Leere ihres Seins. Die Gier und das Verbrechen verfolgen sie allerdings bis in den Urlaub. Die Charaktertypen: Verlorene Seelen, ruchlose Gesellen, schöne Leute, verlogene Künstlerinnen, aber auch echte, wahre Gemüter – unverzichtbar ist etwa die hübsche, aber nicht makellose Frau, die an der Seite eines reichen Mannes in die Szenerie gerät, und die das Herz am rechten Fleck hat. All das ist auch noch sehr humorvoll und witzig erzählt. Schließlich ist der beste Umgang mit dem Investorengesindel, dass man es auslacht.
Die moralische Verkommenheit
Die Helden sind die Portiers, Hausangestellten oder Beschäftigten des Wellness-Spas, die sich um das Wohlleben der Gäste kümmern, aber im Unterschied zu diesen von den Problemen des echten Lebens geplagt sind. Was nicht heißt, dass die Reichen keine Probleme haben. In Wirklichkeit sind sie zerfressen von ihren Problemen, von ihrer moralischen Verrottetheit, von den Verbrechen, in die sie verstrickt sind. Sie können nicht einmal mehr schlafen vor lauter Sorgen. Stets droht die Insolvenz, der Börsenkrach oder die Staatsanwaltschaft mit ihren Betrugsermittlungen.
Wir sehen, welchen Preis sie für ihr Jet-Set-Leben zahlen und sind froh, dass wir nicht wie sie sein müssen. Hinweis an die Leserschaft: Sie müssen an dieser Stelle nicht an René Benko denken. Aber sie dürfen.
Dieses Gruseln an den Intrigen, dem Unglück und den toxischen Geheimnissen der Upper Class ist auch das Erfolgsgeheimnis von „Succession“, der Serie über einen superreichen konservativen Medienmogul, dessen Kinder sich bekriegen und nur auf das Ableben oder die Abdankung des Patriarchen warten. Begehren, Heuchelei, Lüge und Hass wohnen in den Anwesen und Lofts der Protagonisten ganz nah beieinander. Es ist wie in einem Shakespeare-Drama, ja, die Erzählweise ist an diesem großen Klassiker des Dramas geschult. Dessen Protagonisten schließlich hatten ähnliche Probleme: König Lear, der jähzornige Alte, regelt seine Nachfolge und setzt das Unheil in Gang, Hamlet, der Zauderer, der weiß, dass man gar nicht handeln kann, wird aktionsunfähig. Macbeth, der Ehrgeizling, ruiniert alles. Der Kompromiss führt zu keinen Lösungen, die Kompromisslosen waten durch ein Meer von Blut. Genau so ist es auch in „Succession“.
Die Sozialgeschichte des Krimis
„Succession“ ist sowieso große Kunst, nicht nur, weil es die dramaturgischen Kniffe Shakespeares für das Serienwesen adaptiert, sondern weil es auch noch in doppelter Weise aus dem Leben gegriffen ist. Die Serie ist für jeden erkennbar am Leben des rechten Medienmoguls Rupert Murdoch, seines Imperiums („Fox News“ usw.) und seiner Familie modelliert. Skurrilerweise spielt die Serie nicht nur die Kriege in der Familie nach, verfolgt man die Konflikte in der Familie, nachdem die Serie veröffentlicht wurde, hat man den Eindruck, die Familienmitglieder spielen in einer zweiten Feedbackschleife sogar die Serie nach. Herrlich: Erst vor wenigen Wochen traf sich die Kinderschar Rupert Murdochs wieder einmal vor Gericht zu Winkelzügen, die die Kontrolle über die Familienstiftung betreffen. Der fiktionale Krimi um die Reichen, Bösen und Gerissenen, und das echte Leben – bei den Murdochs gerät all das zur Parallelaktion. Das Leben, ein Theater.
Die neuen Serien-Blockbuster sind Gesellschaftskritik und Gesellschaftsanalyse, fügen sich ein in die „Sozialgeschichte des Kriminalromans“ (über diese schrieb der marxistische Theoretiker Ernest Mandel einst eines seiner leichtfüßigsten Bücher). Der Krimi ist ja nie nur ein Krimi, mal spiegelt er die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft, in der das Recht durchgesetzt und das Eigentum geschützt werden muss (wie das auch in den großen Gesellschaftspanoramen Honoré de Balzacs geschieht), mal die Emanzipation der Frau (man denke an die scheinbar harmlose, in Wirklichkeit aber für die sinistren Gestalten gefährliche Miss Marple). Mal zeigt er, dass es kein großes Vermögen gibt, dass nicht auf Verbrechen gründet, mal propagiert er Gerechtigkeitsnormen wie in den unzähligen Robin-Hood-Geschichten, mal zeichnet der Fernsehkrimi zärtlich die proletarischen und sub-prolarischen Milieus wie in den Götz-George-Tatorts, mal etabliert er das Selbstverständnis der Bourgeoisie in einer nivellierten Mittelschichtsgesellschaft wie bei Kommissar Derrick, der in den Villen der Reichen ermittelte, in deren Wohnzimmern es aber auch nicht sehr viel anders aussah als in den spießigen Stuben der Middle-Classes. Kurzum: Kriminalgeschichten reagieren auf gesellschaftliche Thematiken, Skandale, den Zeitgeist und Trends.
Am Ende bleibt es bei der Einfühlung in die Reichen
Die Thematik von heute ist: Die Schamlosigkeit der Etablierten unserer Zeit. Die gefeierten Serien wie „Reservat“, „White Lotus“ und „Succession“ spiegeln die völlige Lösgelöstheit und Abgekoppeltheit der globalen Super-Klassen, den Überreichtum sogenannter Eliten, die durch keine Fäden mehr mit dem realen Leben verbunden sind, oder besser eben: höchstens durch ihre Nannys, Hausangestellten, Chauffeure, Portiere oder Dienstboten. Die dann auf mysteriöse Weise verschwinden und als Wasserleichen wieder auftauchen. Die Superreichen in diesen Filmen, sie fahren nicht mit der U-Bahn, sie stehen noch nicht einmal im Stau: Sie fliegen mit ihren Helikoptern, Privatjets und kreuzen mit ihren Yachten herum.
Die Storys, die sie möblieren, haben eine Botschaft an die Zuseher: Diese verkommenen Leute haben zwar unermessliches Vermögen, aber man würde mit ihnen nicht tauschen wollen. Ihr Leben ist zerfressen von Intrige, Kampf und Ortlosigkeit. Liebe, Zuneigung, Ehrlichkeit, Treue und echte Gefühle haben in ihrer Welt keinen Platz (oder höchstens im Keller, wo die Nannys wohnen).
Das ist die fragwürdige Seite der Gesellschaftskritik, weil sie die Wut dämpft: Wir sehen das Unglück der Super-Klasse, was uns mit den schreienden Ungerechtigkeiten der Gegenwart gleich ein wenig versöhnt. Wir reisen vor dem Bildschirm an schöne Orte, an denen wir in Wirklichkeit natürlich auch gerne wären, aber in die wir nie hineinkommen. Ein wenig wären wir ja doch gerne wie sie, wir hätten gerne den schönen Ausblick ihrer Prachtvillen, nur ohne ihre Untugenden. Und am Ende werden natürlich die schurkischen Reichen mit all ihren Charaktereigenschaften genau gezeichnet, sind vollere Figuren als die Nebendarsteller aus der Unterschicht, die sie umkreisen. Letztlich dreht sich dann doch wieder alles um die Erfolgreichen, die Räuberbarone, Wichtigtuer und Winnertypen, in die wir uns mehr einfühlen als in philippinische Kindermädchen.
Noch die Anklage gegen das vermögende Diebsgesindel mündet in der Identifikation mit demselben.
Titelbild: Miriam Moné

