Ein Dokument wie ein Fiebertraum: Die „Akte AfD“ führt uns vor Augen, woran wir uns schon gewöhnt haben.
Seit zwei Wochen laboriere ich jetzt an einer hartnäckigen, grippeähnlichen Verkühlung, die stur ist und nicht vergehen will. Andere mögen solche Zeiten zum Serien-Bingen benützen. Meine kleine Perversion bestand darin, dass ich die 1100-Seiten des deutschen Verfassungsschutzes über die „Alternative für Deutschland“ (AfD) las, also jenes Gutachten, in dem der Verfassungsschutz der Ultrarechtspartei eine „gesichert rechtsextreme Bestrebung“ attestierte.
„Kein Wunder, dass er nicht gesund wird – bei der Lektüre“, mögen Sie jetzt denken.
Es hat natürlich etwas Bemühtes, Parteien wie der AfD oder auch der FPÖ, die sich permanent radikalisieren, rechtsextreme Bestrebungen nachweisen zu wollen. Das ist in etwa so, als würde das Amt für Hydroingenieurwesen jahrelange Arbeit und hunderte Tauchgänge verwenden, um zu beweisen, dass Wasser nass ist. Na logisch ist es das! Der Verfassungsschutz stellte auch fest, dass moderate Kräfte, die den Rechtsextremismus in der Partei zurückdrängen würden, „indessen nicht festgestellt werden“.
Potzblitz, Sherlock!
Wir wissen alle, was AfD-Leute von sich geben, wenn sie öffentlich sprechen, und aus verschiedenen Leaks wissen wir auch, was sie von sich geben, wenn sie unter sich sind. Dass man das „ganze rotgrüne Geschmeiß aufs Schafott schicken“, müsse, wie das ein Brandenburger AfD-Mann zärtlich formulierte: „Das Fallbeil hoch und runter, dass die Schwarte kracht!”
Das Kommando wird ausgegeben, dem „Gegner Honig ums Maul schmieren, aber wenn wir endlich soweit sind, dann stellen wir sie alle an die Wand.”
Sie haben auch schon ein paar Pläne für die Zeit nach „der Machtübernahme“, nämlich: „Volksfeindliche Medien verbieten.“ Denn: „Die Zeit, in der das deutsche Volk sich erhebt wird kommen. Es ist unsere Zeit!!!“
Funktionäre ganseln sich in Chatdialogen auf, „ich bin auch ein guter Schütze, also hohe Trefferquote“ („ich habe 4 Kinder, die überlasse ich nicht dem Muselmanenglaube“). Legendär sind schon die Chats von Andreas Geithe („Wir sollten eine SA gründen und aufräumen!“) und von Marcel Grauf, bis 2018 Parlamentsmitarbeiter einer ziemlich durchgedrehten Bundestagsabgeordneten: „Immerhin haben wir jetzt so viele Ausländer im Land, dass sich ein Holocaust mal wieder lohnen würde.“ Sehr zynisch, dabei ist Grauf auch ein sehr emotionaler Mensch, der sich von der Vorfreude leicht ergreifen lässt: „Ich wünsche mir so sehr einen Bürgerkrieg und Millionen Tote. Frauen, Kinder. Mir egal. Es wäre so schön. Ich will auf Leichen pissen und auf Gräbern tanzen. S*** HE**!“
Das ist alles lange bekannt, wenn man es denn wissen wollte.
Schritt Eins: Angst, Wahn und Paranoia schüren
Das Gutachten des Verfassungsschutzes türmt dennoch auf 1.100 Seiten ein Kompendium des Schreckens auf, bei dem man sehr genau dokumentiert sieht, wie Hirne und Herzen vergiftet werden. Dabei kristallisieren sich vier Strategien heraus, die man natürlich kennt, aber die noch einmal systematisch klar werden.
Zunächst einmal – Schritt eins – wird die Bevölkerung in Angst und Panik versetzt, indem erfundene Schrecken auf wirkliche getürmt und grotesk übertrieben werden. „Messerstichkultur“ und „Vergewaltigungskultur“ wird angeprangert, und das in einem Stakkato, dass das Publikum den Eindruck gewinnt, man lebe in einer Welt von permanentem Mord und Totschlag und könne von Glück reden, wenn man den Schritt vor die Haustüre überlebt.
Zuwanderer werden mit Schädlingen und Tieren verglichen, es wird biologistisch über das „invasive Vordringen einer Spezies“ referiert, welche einheimische Tierarten ausrottet. Täglich beutelt es die Agitatoren, die nach und nach von ihrem eigenen Irrwitz übermannt werden und an den Unsinn voller Freude selbst glauben: „Wir erleben eine Invasion schrecklicher Wilder“ (Bundestagsabgeordneter Maximilian Krah). Mehr und mehr aufgeschaukelt, wird jedes Maß verloren: Sie sehen deutsche „Innenstädte in Schutt und Asche“ (so ein anderer Bundestagsabgeordneter), ein Werk von „Fachkräften des Todes“, des „Mord-Imports“. Selbst Alice Weidel, die Parteivorsitzende, die manche Leute für „moderat“ im Rahmen dieser Partei halten, spricht vom „Dschihad gegen Nichtmuslime in Deutschland“.
Gravitationszentrum der Radikalisierung ist Thüringens Landeschef Björn Höcke, den man amtlich einen „Faschisten“ nennen darf und den die einstige Parteivorsitzende Frauke Petry einen „lupenreinen Nationalsozialisten“ nennt: „Blut klebt an den Händen“ der „Kartellpolitiker“ – damit sind die von volksfremden Mächten installierten Eliten gemeint – trommelt Höcke und versteigt sich zu dem absurden Begriff, sie hätten das Land „zu einem Killing Field“ gemacht. Der Begriff war bisher vornehmlich für die Massenmorde im Kambodscha der Roten Khmer gebraucht worden, die zwischen 1,7 und 2,5 Millionen Tote gefordert hatten. Die paranoide Fantasie, die die Anhänger immer mehr in Negativismus und einen Wahn hineinagitieren soll, ist der erste Schritt der Propaganda.
Schritt zwei: Die große Verschwörung des Systems
Der zweite Schritt ist die Verschwörungsmentalität: eine „abgrundtiefe Bösartigkeit“ (so eine Parlamentarierin) jener wird unterstellt, die völlig vorsätzlich das Land ruinieren würden. Da ist erst vom „Großen Austausch“ die Rede, der Verschwörungstheorie der „Neuen Rechten“, aber man bleibt nur kurz bei den neuen Vokabeln, bald ist man in Nazi-Manier bei Begriffen wie „Volkstod“.
Es geht, so der Europaabgeordnete Maximilian Krah, um vorsätzliche „Zerstörung“ („der Große Austausch ist für jedermann sichtbar, tagtäglich“). Noch nie wurde eine „Bevölkerung so schnell ausgetauscht wie heute, es sei denn es handelt sich um eine Eroberung mit Genozid“ (Landtagsabgeordneter Daniel Halemba). Deshalb, so Björn Höcke, der gerne Ministerpräsident von Thüringen werden würde, zählen die Deutschen zu den „sterbende(n) Völker(n)“. Höcke spricht auch vom „Staatsstreich“ der Regierenden, weil diese „sukzessive das Staatsvolk“ austauschen würden. Alles orchestriert natürlich, nimmt der gemeine AfD-Funktionär an: Man erkenne „brachiale Kulturzersetzung des Neokolonialismus“, betrieben von den westlichen „Siegermächten“, von „globalistischen Medienkartellen und NGO-Verbrechern“ (so der Chef der AfD-Paderborn).
Deutschland ist kein Land im klassischen Sinne, sondern zu einem „Siedlungsgebiet“ verwandelt worden, das von raumfremden Gruppen erobert werde („Eindringlinge, die Deutschland erbeuten wollen“). Der Plan: Ein schleichender „Genozid am deutschen Volk“ (Ex-Abgeordnete und Ex-Bundesvorstandsmitglied Christina Baum). Deutschland werde „aufgelöst“. Dieselbe Abgeordnete hat den perfiden Vorschlag gemacht, Stolpersteine wie jene für Holocaust-Opfer im Boden anzubringen, mit Bild und Namen „von Migranten getöteten Opfern“.
Schritt drei: Die Nazi-Kokettiererei
Neben dem paranoiden Wahn und der Verschwörungstheorie, dass die weiße Bevölkerung Europas vorsätzlich ausgetauscht würde, darf als drittes aber die berühmte „Anspielung“ nicht fehlen, also das Spiel mit dem größten Tabu, der Nazi-Verherrlichung. Zwar ist vieles an der Agitation in der Sprache des globalen Rechtsradikalismus formuliert, wie er von Orbán bis Trump, von Kickl bis Charlie Kirk perfektioniert wurde, kann aber dann doch nicht ganz ohne NS-Jargon auskommen.
Deutschland sei völlig wehrlos gegen diesen Genozid an den Deutschen, weil es vom „Schuldkult“ (Alice Weidel) gelähmt ist, oder, wie das eine Parlamentsabgeordnete formulierte: „Vom deutschen Schuldkult psychisch und seelisch geschwächt und jahrzehntelang umerzogen, wird weiter darauf hingearbeitet, unser Volk, unsere Kultur, unsere Sprache und unsere Tradition langsam verschwinden zu lassen“. Dass Deutschland „vom Weltfinanzkapital gesteuerten Machthaber(n)“ in einen Krieg gegen Russland gehetzt würde, fügt sich in das krause Bild. Schließlich ist, so Björn Höcke, Deutschland ein „Vasallenstaat BRD“. Höcke: „Sie, die USA, marschieren ein, sie zerstören, sie besiegen, sie besetzen. Dann wird die Regierung des besetzten Landes beseitigt und dem Land wird eine neue Regierung aufgezwungen. … Liebe Freunde, wir kennen dieses Vorgehen und diese Einschätzung der Amerikaner in Afghanistan, auch aus der deutschen Geschichte.“
Natürlich, das kennt man aus der deutschen Geschichte, gewiss. 1945 haben die bösen USA den Deutschen „eine neue Regierung aufgezwungen“. So kann man es natürlich auch sehen. Stimmt sogar in gewissem Sinne.
Schritt vier: Die Rettung naht
Der letzte Schritt im agitatorischen Viersprung ist schlussendlich die Wendung ins Erbauliche. Auf Angstkult, Verschwörungsgeraune und verdruckste Nazi-Verherrlichung folgt als letztes die frohe Botschaft. Alles ist fürchterlich (Schritt 1 bis 3), aber die Rettung naht (Schritt 4). „Wir werden Ausländer in ihre Heimat zurückführen… Millionenfach. Das ist kein Geheimplan. Das ist ein Versprechen (…) Für Deutschland“. Der Vorsitzende der AfD-Paderborn, Marvin Weber, ist fest davon überzeugt, „dass es den einheimischen Deutschen auf der Seele brennt, endlich wieder ohne ewigen Schuldkult Deutsche im eigenen Land sein zu dürfen. Wir wollen endlich wieder frei von den ewigen Ketten der ewigen Geschichtsinstrumentalisierung der uns ausplündernden Staaten sein.“ Sein Parteifreund Hans Thomas Tillschneider versteigt sich zu der schönen Formulierung, „unsere Vergangenheit soll uns keine Last mehr sein, sondern eine Lust“. Man werde sich nicht zu schade sein für „wohltemperierte Grausamkeit“, erklärte ja schon Björn Höcke. Er ist bereit, Held wie er ist, dieses Opfer auf sich zu nehmen.
Frederik Schindler, Journalist bei der konservativen WELT, hat gerade eine Biografie über Björn Höcke herausgebracht. Titel: „Höcke. Ein Rechtsextremist auf dem Weg zur Macht.“ Schindler konstatiert lapidar: „Die AfD hat sich radikalisiert, Höcke nicht: Er war immer schon Rechtsradikaler“.
Höcke, ehemaliger Gymnasiallehrer, kultiviert mehr die Figur des kaltherzigen Schulmeisters als den polternden Volkstribun: „Wenn wir wieder wir selbst werden, wenn wir unsere neurotische Phase überwinden, in der wir seit 70 Jahren durch die Weltgeschichte dämmern, dann ist mir um die Zukunft meines Landes nicht bange, wir sind ein großartiges Volk“, sagt er. Vor der AfD-Jugendorganisation Junge Alternative erklärte er vor einigen Jahren: „Ich möchte, dass ihr euch im Dienst verzehrt. Ja, ich möchte euch als neue Preußen. Ich weise euch einen langen und entbehrungsreichen Weg. Ich weise dieser Partei einen langen und entbehrungsreichen Weg. Aber es ist der einzige Weg, der zu einem vollständigen Sieg führt, und dieses Land braucht einen vollständigen Sieg der AfD!“ Diese Formel brachte ihm seinerzeit einen Ausschlussantrag aus der Partei ein, der aber am Ende folgenlos blieb. Seine Maxime ist, die „Grenze des Sagbaren“ müsse „immer wieder mit kleinen Vorstößen erweitert werden … Wer die Begriffe prägt, der prägt die Sprache“, sagt er. „Wer die Sprache prägt, der prägt das Denken. Wer das Denken prägt, der prägt den politischen Diskurs, und wer den politischen Diskurs prägt, der beherrscht die Politik, egal ob er in der Opposition ist oder in der Regierung.“
Gewöhnung an die Grausamkeit
Wir haben uns an all das so gewöhnt, dass es fast schon als normal erscheint. Ähnlichkeiten mit der FPÖ sind natürlich weder zufällig noch unbeabsichtigt. Sogar ich habe mich bei diesem Gedanken ertappt, beim Durchlesen dieser 1.100 Seiten, bei diesem „naja, so ist das nun einmal“-Empfinden und dem „so ist es halt“-Impuls. Die Gewöhnung ist der größte Feind der Zivilisiertheit.
