Fast alle werden antworten: „Natürlich nicht!“ Das ist diese linke Meinungsdiktatur.
Vergangene Woche erstaunte mich der „Standard“ mit der Schlagzeile: „Fast 200 Menschengruppen weltweit haben keinen Kontakt zur Zivilisation.“ Meine erste intuitive Reaktion war Erstaunen, und die Frage – „nur 200?“ Kenne ich doch selbst einige hundert Menschengruppen, die keinen Kontakt zur Zivilisation haben, wenn damit Zivilisiertheit gemeint sein soll: Die FPÖ-Wien, die Nepp-Vilimsky-Krauss-Bubble, oder die Kickl-Hafenecker-Belakowitsch-Blase, die AfD in Deutschland, die Maga-Irren in den USA. Putin und seine Folterknechte. Die Hamas und ihre Mordbrigaden. Kadyrow und seine Killertruppe. Irans Revolutionsgardisten und ihre Henker. Netanjahu und seine Kriegsverbrechen-Fans. Vergewaltigungsteenies in Meidling und Favoriten. Algerische Machetenmörder in der Brigittenau. Abschiebepolizisten und Rollkommandos von Florida bis Schleswig-Holstein. Aufgeblasene Korruptionisten und Diebsgesellen, die in Fernsehstudios auch noch die große Bühne bekommen.
Der abnehmende „Kontakt zur Zivilisation“ ist ja dieser Tage ein weltweites Phänomen.
Der Stand der Zivilisation
Natürlich war auch mir nach einem kleinen Moment der Irritation klar, dass der Standard-Text von indigenen Völkern handelt, die keinen Kontakt zur Außenwelt haben. Der Bericht war auch nur eine Agenturmeldung, die viele Zeitungen übernahmen, vom „Spiegel“ bis zur „Zeit“ und den sie dann quasi nur mit ein paar eigenen Sätzen und einem eigenen Titel versahen. Der Bericht selbst wiederum beruht auf einem englischsprachigen Report einer NGO mit dem Titel: „Uncontacted Indigenous People at the Edge of Survival“ („Kontaktlose indigene Völker an der Grenze des Überlebens“). Soweit ich es überblicke, hat den Begriff der „Zivilisation“ sonst niemand angefasst. Den greift man ja nur mehr mit spitzen Fingern an, weil in ihm so viel Überheblichkeit drinsteckt, die berühmte „White Supremacy“. Die Selbstgerechtigkeit der angeblich „Entwickelten“.
Man hat sich lange eingeredet, dass wir „fortgeschrittenen Kulturen“ den Wilden die Zivilisation bringen, dann darf man sie natürlich schon auch ein bisschen ausrotten, schließlich kriegen sie dafür im Austausch die „Kultur“. Das macht das Ausrotten ja auch viel leichter, dann kann man sich nämlich einreden, dass selbst die Bestialität einen Beitrag zum Fortschritt leistet.
Katze, süß-sauer, knusprig gebraten
Zum Stand der Zivilisation ein paar Anekdoten: Im US-Wahlkampf hat Donald Trump fabuliert, in Springfield, Ohio, würden „illegale Migranten“ Hunde und Katzen freundlicher Amerikaner verspeisen. Wie Barbaren fallen sie ein und braten unsere Haustiere. Diesen irrwitzigen Unfug hat vorher eine rechtsradikale Influencerin in die Welt gesetzt. Trump hat es dann verbreitet. „They are eating the cats, the dogs…“ wurde ein Schlager im Wahlkampf, in hunderttausenden Memes verbreitet. Trumps MAGA-Maschine stilisierte sich zum Schutzengel der armen Garfields und Benjis. Als wäre das nicht verrückt genug, begab es sich allerdings, dass etwa zur selben Zeit Kristi Noem, damals Gouverneurin von South Dakota, ihre Hündin erschoss und damit in einem Video prahlte. Das Haustier war erst 14 Monate alt, unfolgsam und trotzte allen Versuchen, sich erziehen zu lassen. Als Jagdhund machte sie ganz schlechte Figur, vertrieb die Fasane, statt sie zu apportieren und machte sich stattdessen über die Hühner der Nachbarn her. Eine „hässliche Sache“ sei die Hündchen-Exekution gewesen, aber eine notwendige, harte Entscheidung, sagte sie. Also was jetzt: Schutzmacht der Haustiere oder Lassie-Killer?
Die Tiertötung wurde quasi zum PR-Stunt für den Kult der Härte. Heute ist Kristi Noem Innenministerin in der Trump-Regierung und oberste Deportations-Beauftragte. Sie posiert etwa auch gerne vor Konzentrationslagern in El Salvador, wo man die Leute hinbringt, die man vorher von der Straße weggefangen hat. Immerhin erschießt sie sie nicht eigenhändig.
Noch.
Soviel zum Stand der Zivilisation.
Opposition gegen die demokratische Lebensweise
Die radikale Rechte regiert, begeht grausame Taten, hält sich nicht einmal mehr an Gesetze und behauptet dennoch, dass es eine „linke Meinungsdiktatur“ oder „linke Hegemonie“ gibt. Sie können das mächtigste Amt der Welt bekleiden, beide Häuser des Parlaments kontrollieren, sich im Höchstgericht eine Mehrheit ergaunert haben, das ganze Silicon Valley kniet vor ihnen – und sie fantasieren noch immer, sie seien in Opposition gegen einen linken oder liberalen Mainstream. Es ist absurd, aber sie glauben es wirklich. Auch hier, bei uns: Die Rechten kontrollieren den Boulevard, kaufen sich Meinungsmaschinen, zwingen allen ihre Themen auf und halluzinieren noch immer von einer Diktatur der Linken.
Wie kommen sie eigentlich darauf? Wenn sie das so besessen glauben, ist vielleicht sogar ein Körnchen Wahrheit darin? In unseren Gesellschaften haben wir so allmählich einen Konsens darüber hergestellt, dass sich niemand als etwas Besseres vorkommen soll, dass alle Menschen gleich viel Wert sein sollen, dass die Menschenwürde zu achten ist, dass Versklavung und Rassismus nicht wirklich tolle Sachen sind, genauso wenig wie die Privilegien irgendwelcher aufgeblasener Wichtigtuer. Das liberalistische „Leben und leben lassen“, dass also jeder und jede nach ihrer eigenen Fasson glücklich werden soll und dass auch Minderheiten Respekt gebührt, auch das wurde zum Teil einer „demokratischen Lebensart“, an die sich seit den siebziger Jahren noch die konservativste Oma gewöhnte. Das sind allgemein anerkannte Wertvorstellungen, und dass unsere Gesellschaften sie nicht immer achten, führt zu Zynismus. Es wurde auch zum vorherrschenden „Wert“, dass man sich über Behinderte oder sonstwen nicht lustig machen soll. Das ist mehr oder weniger Konsens geworden, auch, dass man beispielsweise nicht mehr „Krüppel“ sagt.
Selbst jene, die diesen Konsens übertreten, wissen, dass es eine Übertretung ist. Sogar jene Comedians, die sich über progressive Werte von wechselseitigem Respekt, Achtung und Achtsamkeit lustig machen, bestätigen diese Werte letztlich – sie machen sich ja nicht über die Werte selbst lustig, sondern meist über die Tatsache, dass wir nicht alle permanent und konsequent unsere Werte leben und dass in einer komplexen Welt sowieso alles dann sehr kompliziert wird. Etwa, wenn man die Sitten des Einwanderers achtet, sich aber die Frage stellen muss, ob dazu auch die Gewohnheit des einen oder anderen zählt, dass er seine Frau daheim einsperrt. Noch so eine Kompliziertheit: Wenn man für Gleichheit ist, aber dann doch gerne seinen Kindern optimale – und damit manchmal auch privilegierte – Startbedingungen schafft. Klassisches Beispiel für solche Comedy ist Lisa Eckhart, die manche für eine reaktionäre Anti-Woke-Kämpferin halten, die für mich aber eine schlaue Progressive ist, die sich berechtigterweise über die Schrulligkeiten von ihr und ihresgleichen lustig macht. Man nennt das Selbstironie. Die macht vieles leichter. Dieses Lachen bestätigt aber natürlich die Allgegenwart progressiver Werte.
Widerstand gegen zivilisiertes Verhalten
Können Sie sich noch erinnern, wie Donald Trump im Wahlkampf vor acht Jahren einen Reporter mit Behinderung verspottete, indem er dessen zuckende Armbewegungen infolge einer angeborenen Gelenksversteifung nachäffte? Das war wirklich ein TV-Schock-Moment. Aus der Sicht der meisten Menschen: Eine ekelhafte Übertretung. Aus Sicht von Trump und seiner Anhänger: Ein Akt der „Opposition“ gegen eine heute gängige Moralvorstellung, nämlich die, dass man Menschen mit Behinderung nicht verspottet. Also: Widerstand gegen den Mainstream. Und zugleich eine Einübung in die Barbarei. Und das ist nur ein Exempel. Letztlich macht die ganze Welt heute täglich, stündlich, minütlich Einübungen in die Ent-Zivilisierung.
Soviel zum Stand der Zivilisation.
Unlängst war ich bei einer Konferenz von lauter herausragenden Philosophinnen und Philosophen und ich saß da am Abschlusspanel der dreitägigen Tagung und empfand mich, wie stets bei solchen Gelegenheiten, als Hochstapler unter all diesen Meisterdenkern und hoffte, dass mich niemand entlarvt. Nach einigen Vorträgen und Diskussionsbeiträgen wurde ich gefragt, was denn der Unterschied zwischen dem heutigen Rechtsextremismus und dem Mordregime der Nazis sei. Ich antwortete, vorsätzlich pointiert und „shocking“: „Naja, vielleicht nur acht Jahre?“ Ich merkte dann, dass das ein etwas zu deprimierendes Schlusswort der Tagung wäre und stammelte überstürzt: „Gerade weil wir es nicht ausschließen können, gerade weil grundsätzlich auch das Allerschlimmste möglich ist, muss man alles tun, um es zu verhindern…“ Alle waren glücklich, dass ich die Kurve noch gekratzt habe. Hinterher gingen wir dann essen. Katzen standen nicht am Speiseplan.
Titelbild: Miriam Moné
