Samstag, Dezember 6, 2025

Verhaberung – eine Stärke?

Warum uns die Deutschen für den österreichischen Filz ein wenig beneiden.

Die Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“ hat bekanntlich auch eine Art „Österreich“-Beilage, also mal drei, mal vier Seiten, die nur in Österreich erscheinen. Diese Österreich-„Zeit“ feierte jetzt ihr Zwanzig-Jahre-Jubiläum mit einer Sonderausgabe, in der der Berliner Kollege Robert Pausch ein paar bemerkenswerte Sätze schreibt. Von außen wirke es, meinte er, als ob Österreich „bis in den kleinsten Fitzel durchsetzt ist von Buddytum oder, wie man bei euch sagt, Freunderlwirtschaft – und dass es trotzdem ziemlich gut funktioniert“. Aber im Grunde vermutet Pausch, dass Österreich in gewissem Sinne gerade deshalb gut funktioniert. Manchmal gäbe es kleine Schiebereien, aber dafür auch eine intakte Infrastruktur, sozialen Wohnbau, bezahlbare Mieten, einen Staat, der seine Gemeinwohl-Aufgaben jedenfalls besser hinbekommt als manche anderen Länder. Ein paar Seiten vorher singt Alexander van der Bellen ein Loblied auf den Kompromiss. Dazwischen führen die Rapperin Esra Özmen und Wolfgang Sobotka vor, dass beim Reden die Leut‘ zusammenkommen. („Ich habe das Gespräch jetzt gefeiert“, sagt die Esrap-Frontfrau zum Abschluss).

Man macht sich die Dinge bei einem Glaserl aus, wir werden ja keinen Richter brauchen, all das entspricht natürlich dem romantischen Selbstbild, das die Österreicher und Österreicherinnen – und vielleicht besonders speziell auch: die „Wiener“ – seit Jahrhunderten über sich selbst haben. Schon Hugo von Hoffmannsthal unterteilte Österreicher und Preußen in ein übersichtliches Schema, so seien die Preußen „konsequent“, der Österreicher hingegen „bleibt lieber im Unklaren“. Die einen handeln „nach Vorschrift“, die anderen „nach Schicklichkeit“. Da ist ganz viel Klischee dabei, klar. Aber es gibt ja bekanntlich keine Klischees ohne einen Kern von Wahrheit.

Macht Verhaberung Nationen erfolgreicher?

Robert Pausch hat schon recht: Vieles, was man üblicherweise als ein Problem des österreichischen politischen Lebens (der berühmten „Realverfassung“) ansieht, ist seine Stärke. Man kann das sogar nachweisen. Das Verhandeln, das Kompromisseschließen, das Vermeiden des Konfliktes, das macht Nationen erfolgreicher, das haben gerade in der Wirtschaftswissenschaft viele Studien gezeigt. In der Ökonomie spricht man von „korporatistischen Systemen“, etwa mit einer starken Sozialpartnerschaft, bei der sich die Akteure gut kennen und damit in der Lage sind, vernünftige Abmachungen auszuhandeln. Korporatistische Systeme sind auf lange Sicht nachweisbar viel erfolgreicher als Systeme mit Konflikt, starker Regelhaftigkeit und viel Wettbewerb. Das hat die Wissenschaft eindeutig herausgefunden. Wachstum, Einkommensentwicklung, alles das ist in korporatistischen Systemen besser.

Wir haben bei uns auch viel Polarisierung, scharfe Debatten und manchmal brennt die Luft vor Hass – besonders seit dem Aufstieg des Rechtsradikalismus und seiner markanten Selbstradikalisierung in den vergangenen sechs, sieben Jahren. Aber es ist manchmal ziemlich auffällig, wenn sich Redner im Parlament wüst beschimpfen, sich bei diesen Schimpfkanonaden dann jedoch mit Du anreden. Man kann sich richtig gut vorstellen, dass sie nachher in der Kantine rumsitzen, drei Biere trinken und sich wechselseitig versichern, das eh nicht so ernst gemeint zu haben. In gewisser Weise ist die rabiate Unbedingtheit der Rechtsradikalen ein sehr unösterreichischer Charakterzug. Man könnte die selbsternannten „Patrioten“ schon aus diesem Grund „anti-österreichischer Umtriebe“ bezichtigen.

Man trifft sich im Leben immer – zehnmal

Für das Österreichertum gibt es natürlich nicht nur die berühmten „nationalkulturellen Gründe“, diese ganzen Erklärungen von Mentalität bis Wiederaufbau und Geist der Nachkriegszeit („schwamm drüber“), sondern einfach auch ganz objektive Ursachen. Österreich ist ein kleines Land und das Gravitationszentrum von Politik (und Verwaltung und Wirtschaft) ist Wien. Leute, die sich öffentlich streiten, kennen sich häufig seit vierzig Jahren, oft seit Studententagen, manchmal sogar von der Schulbank. Das Sprichwort „Man sieht sich im Leben immer zweimal“ hat in einer solchen Nation natürlich eine festere Verankerung in der Wirklichkeit als in Ländern mit Zig-Millionen Einwohnern und einem halben Dutzend Millionenstädten. Ob man das jetzt gut oder schlecht findet – so ist es nun einmal. Deutschland mit seinen vielen Metropolen ist natürlich anders.  

Nur: Robert Pauschs Text ist vom Verdacht durchzogen, dass all das eigentlich ein Grund für die Funktionstüchtigkeit des Landes ist und vielleicht sogar für demokratische Stabilität. Auch wenn wir Österreicher selbst diese Eigenschaften unseres öffentlichen Lebens häufig für einen Fehler halten. Was übrigens auch ein Teil der Nationalkultur ist, nämlich, dass wir uns insgeheim für Leute mit fragwürdigem Charakter und für unfähiger als die anderen halten und uns gerne kleiner machen, als wir sind.

Das Hintertürl

Ich grüble gelegentlich an diesem Thema herum, was heißt: Ich bin mir da mit mir selbst nicht einig, debattiere darüber still mit mir selbst. Zuletzt etwa nach dem Urteil gegen August Wöginger, der für einen Parteifreund intervenierte, und dann vor Gericht gestellt wurde, seine Schuld einbekannte, und dafür mit Diversion einigermaßen glimpflich davonkam. Viele hielten dieses Urteil für einen Skandal, weil damit der Kampf gegen Parteibuchwirtschaft und für mehr Transparenz desavouiert wurde. Man kann das so sehen, aber zugleich habe ich mir gedacht:

Klar, Wöginger hat für einen Parteifreund interveniert, der offensichtlich nicht ausreichend qualifiziert war; und Wöginger war nicht irgendwer, sondern Klubobmann – ein Mächtiger, mit dem man es sich nicht verscherzen will. Auch wenn er nichts „befehlen“ konnte, ist sein Wunsch natürlich so etwas ähnliches wie ein „Befehl“. Das unterscheidet diesen Anruf wohl von den meisten anderen Anrufen ähnlicher Art. Aber ich denke gerne über den Anlassfall hinaus und überlege, was eigentlich passiert, wenn wir alle miteinander in diesen Dingen strenger werden. Wird dann unsere Welt besser, weil sie transparenter, klarer, weniger verfilzt wird? Ich bin mir da nicht so sicher.

Erstens denke ich, es wird immer so sein, dass sich Menschen zum Vorteil anderer Menschen einsetzen, weil sie sie schätzen, weil sie mit ihnen befreundet sind oder auch nur, weil sie wissen, dass sie einen potentiellen Vorteil haben, wenn ihnen andere einen Gefallen schuldig sind. Sie rufen dann bei Ämtern an, wenn sie dort jemanden kennen, oder sogar, wenn sie niemanden kennen – um ein gutes Wort einzulegen. Unternehmer rufen bei anderen Unternehmen an, wenn sich ein Freund bei diesen beworben hat; normale Bürger rufen bei Amtspersonen an, wenn sie für einen jungen Mann ein gutes Wort einlegen wollen, der die Staatsbürgerschaft beantragt hat, und den sie als Vorbild von Integration kennen. Irgendwer kennt immer irgendjemanden, der jemanden kennt. Menschen setzen sich für andere Menschen ein. Manchmal aus guten Gründen. Manchmal aus schlechten Gründen. Wäre es gut, wenn wir das generell unterbinden, und als „Amtsmissbrauch“ oder „Anstiftung zum Amtsmissbrauch“ verfolgen? Ich weiß nicht. Gesellschaften sind dann scheinbar völlig frei von Korruption, wenn alles ganz genau geregelt ist und es keinen Spielraum für Entscheidungen gibt. Dann reitet aber oft auch der Amtsschimmel. Bei uns hat es immer das berühmte „österreichische Hintertürl“ gegeben, bei dem man menschliche und richtige Entscheidungen treffen konnte, auch wenn sie nicht ganz exakt den Regeln entsprechen. Die Welt wird nicht besser, wenn wir das Hintertürl verrammeln und fest zusperren.

Subtile Form der Ungleichheit

Ich bin hier ein wenig familiär „vorbelastet“, was heißt, ich bin in dieser Kultur aufgewachsen. Meine Großmutter war eine ganz einfache Frau – also ohne die „guten Beziehungen“ der Wichtigen und Einflussreichen, hat aber immer gesagt: Irgendein Hintertürl findet man immer. Meine Mutter nahm das auf und sagte gern, wenn irgendwo Unbill drohte: „Dann renn ich von Pontius bis Pilatus“. Das war früher ein bekanntes Wienerisches Sprichwort dafür, dass man von einer Amtsperson zur nächsten pilgert, bis man die eine gefunden hat, die bereit war, ein Problem an den Regeln vorbei mit etwas Menschlichkeit zu lösen. Das ist unser System und im Grunde finde ich das gut, jedenfalls besser als die Haltung: „Die menschliche Lösung wäre zwar die zweckmäßigere, aber die Regeln sind nun einmal so, also kaprizieren wir uns auf die dumme Lösung.“ Ich selbst habe auf diese Weise schon Leuten Pässe besorgt oder Einreisevisa. Anstiftung zum Amtsmissbrauch? Aber geh…

Ich weiß natürlich auch, dass dieses System, bei allen seinen Vorteilen auch seine Nachteile hat. Hintertürln erlauben Amtspersonen nicht nur gutmütige Entscheidungen, sondern auch besonders gemeine, bösartige. Die Amtsperson mit viel Spielraum spielt dann Gott und entscheidet über Schicksale. Das hängt dann von der Person ab, oder vom Geist, der in der Behörde vorherrscht. Zudem ist so ein System unfair, und zwar gar nicht so sehr, weil es die Reichen gegenüber den Armen und die Einflussreichen gegenüber den Einflussarmen bevorzugt. Auch der Einflussarme kann bei uns die eine Amtsperson finden, die er zur Lösung seines Problems braucht. Oder kennt jemand, der das für ihn erledigt.

Es ist eine Zwei-Klassen-Gesellschaft besonderer Art: Es bevorzugt jene, die wissen, dass das System so funktioniert – und benachteiligt jene, die das nicht wissen. Das gilt auch für den Gesundheitsbereich. Es gibt ja bei uns eine doppelte Zwei-Klassen-Medizin: Die Kassen- und die Privatversicherten – und diejenigen, die ein paar Ärzte kennen, und die, die keine Ärzte kennen.

Systemisch gesprochen: Ein solches System bevorzugt also die Wissenden, die zumindest irgendwie Teil des Systems sind und benachteiligt Outsider und neu Hinzukommende. Auch das habe ich schon früh gelernt, als meine Mutter zu Pontius und Pilatus gelaufen ist, um meine superschlaue türkische Volksschulkollegin ins Gymnasium zu bringen. Deren Eltern hatten natürlich keine Ahnung, wie das bei uns funktioniert und dass das überhaupt möglich und erstrebenswert ist.


Titelbild: Miriam Moné

Autor

  • Robert Misik

    Robert Misik ist einer der schärfsten Beobachter einer Politik, die nach links schimpft und nach rechts abrutscht.

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