Samstag, Dezember 6, 2025

Sie werden uns nicht mehr in Ruhe lassen

Unsere Zeit verlangt nach einer Bemühung um demokratische Einigkeit. Die Gegner der Zerschlagung unserer Freiheit müssen sich heute zusammenschließen, auch wenn sie in anderen Fragen verschiedener Meinung sind. Ein Appell an die Zivilgesellschaft.

Selbst wenn wir es in diesem Tagen, Monaten und Jahren manchmal schaffen, die Verirrungen unserer Zeit kurz wegzulächeln – meist durch das Ignorieren der Medien und die Konzentration auf Privates, Familiäres, auf eine Welt, die uns zumindest als von außen nicht antastbar scheint –, geht das Gefühl nicht weg. Das Gefühl wird zur Befürchtung. Die Befürchtung wird eines Tages Gewissheit. Dieses Gefühl, das uns beschlichen hat, könnte man so beschreiben: Die totalitäre Herrschaft, die ihre Hände nach uns ausstreckt, wird uns nicht mehr in Ruhe lassen.

Man muss nicht parteipolitisch oder ideologisch denken, man muss nur lesen und nachdenken, um sich ein Bild davon zu machen, wohin die sogenannten westlichen Demokratien gerade steuern. Umso mehr plädiere ich ständig dafür, nun endlich einmal die eigene politische Orientierung hintanzustellen. Es sollten all jene zusammenkommen, die diese eine Meinung teilen: So kann es mit den westlichen Demokratien nicht weitergehen. Hier machen es sich gerade Lüge, Propaganda, Unmenschlichkeit, Unfreiheit, Rückschritt und Gewalt bequem. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie uns unterdrücken.

Kafkas Messer

Sie werden uns nicht mehr in Ruhe lassen. Das bemerken wir jeden Tag und fragen uns immer wieder, was wir tun können und wie es so weit kommen konnte. Es geht uns wie Franz Kafkas Protagonisten K., der am Ende des Romans Der Prozess die Bedrohung physisch in Form eines Messerstichs spürt: Aber an K.s Gurgel legten sich die Hände des einen Herrn, während der andere das Messer ihm tief ins Herz stieß und zweimal dort drehte. Mit brechenden Augen sah noch K., wie die Herren, nahe vor seinem Gesicht, Wange an Wange aneinandergelehnt, die Entscheidung beobachteten. »Wie ein Hund!«, sagte er, es war, als sollte die Scham ihn überleben.

Anderen ist es weniger wichtig, ob die Scham sie überlebt oder nicht; sie wollen in diesem Niedergang eine aristokratische Haltung einnehmen und so dem Durchgreifen des Unanständigen mit Anstand begegnen. Das erinnert mich an einen anderen K. aus der Literatur – dem Herrn Keuner von Bert Brecht: Herr K. sagte: »Auch ich habe einmal eine aristokratische Haltung (ich wisst: grade, aufrecht und stolz, den Kopf zurückgeworfen) genommen. Ich stand nämlich in einem steigenden Wasser. Da es mir bis zum Kinn ging, nahm ich diese Haltung ein.«

Wasser bis zum Kinn

Es ist oft und viel vom Kapitalismus die Rede. Zu wenig aber davon, wie sich der Kapitalismus verändert hat. Er ist nämlich weder in seinem Handeln noch in seinen Zielen konstant und es ist ein großer Irrtum, das von ihm anzunehmen. Wir erinnern uns an die Versprechen der 1980er-Jahre: Rede- und Meinungsfreiheit, Vielfalt, Wettbewerb, freier Markt – das waren seine Versprechen. Sie sollten eine Gegenwelt zum Kommunismus sowjetischer Prägung sein.

Heute sprechen sich Milliardäre offen gegen Wettbewerb und einen freien Markt aus. Heute ist der Kapitalismus jene Herrschaft, die ihr eigenes Volk überbewacht, bespitzelt, Verbot um Verbot ausspricht, kontrolliert, Propaganda betreibt, die Macht ihres großen Apparats über das Individuum zelebriert. Viele Passagen aus den Reden des heutigen US-Präsidenten haben verblüffende Ähnlichkeiten mit Reden Stalins.

Angriff auf das eigene Volk

Der Kapitalismus ist heute siegessicher, dass er bereits die ganze Welt besiegt hat. Das war nicht immer so. Wie Hardt und Negri und ins Empire erinnern, befand sich Anfang des vergangenen Jahrhunderts in einer veritablen Krise: Zur Zeit des Ersten Weltkriegs schien es vielen Beobachtern […], als ob die Totenglücke geläutet hätte und das Kapital nun kurz vor dem Ende stünde. Nun, während wir dieses Buch schreiben und sich das 20. Jahrhundert dem Ende zuneigt, ist der Kapitalismus auf wundersame Weise gesund und die Akkumulation kräftig wie nie.

Mehrere Erklärungen dafür, die ich hier nicht alle zitieren kann, können Sie dem Buch entnehmen. Mir geht es um eine andere Frage: Warum geht der Kapitalismus nun auf sein eigenes Volk los, zerrüttet Bildung, Wissenschaft und Kultur und bedroht damit auch ein großes bürgerliches Publikum, das ihm im Grund wohlgesonnen wäre?

Kriminalisierung von zivilrechtlichen Bewegungen

Auch darauf gibt es verschiedene Antworten, die alle diskutiert werden können, die aber eines nicht bewirken sollten: dass sich die Gegner des barbarischen Kahlschlags und des Ausrottens jeglicher Kultur davon spalten lassen. Das ist nämlich jetzt das Wichtigste: sich nicht drangsalieren zu lassen.

Die gebündelte Widerstandskraft muss sich auch als Masse zeigen. Sie wird freilich in der Kriegsrhetorik der heutigen Totalitaristen sofort als terroristisch, links, linkslink, kommunistisch o.ä. bezeichnet werden. Auch die Ausweitung der nun vorhandenen Kriminalisierung auf oppositionelle Bewegungen, auf NGOs, auf Bürgerinitiativen und zivilrechtliche Bewegungen wird bald erfolgen, obwohl die Mehrheit aller NGOs wahrscheinlich ohnehin neoliberale Grundzüge hat.

Innenpolitik und ewiger Wahlkampf

Das scheinbar Nationalstaatliche des neuen Totalitarismus wird die Nation nicht stärken, da man nun schon gegen das eigene Volk vorgeht. Diese Machtdemonstrationen sollen der innenpolitischen Stärkung dienen. Die moderne, totalitäre westliche Demokratie ist eine, in der die Regierungen sich im ewigen Wahlkampf befinden. Sie betreiben keine wirkliche Außenpolitik mehr, sondern benutzen sie nur als Bühne. So ist es übrigens auch mit allen anderen Politikfeldern und der atemlosen Ankündigungspolitik, die selten pragmatisch wird.

Damit wir von dieser Disruption in Ruhe gelassen werden, müssen wir uns zu Wort melden, müssen wir aufstehen. Wir müssen Formen des passiven und aktiven Widerstands finden, die dieses Treiben bekämpft. Dabei darf uns das politische Spektrum nicht verloren gehen, von dem wir erwarten, dass es das demokratische Kräftespiel in Gang hält. Zukunftslos in der Demokratie sind Bewegungen, die »den westlichen demokratischen Parlamentarismus und den Parteienstaat verwerfen«, wie es im Korneuburger Eid heißt. Denn damit ist der Totalitarismus bereits entworfen. Und dieser Entwurf hat auch direkt in die Diktatur und den Untergang geführt.

Keinen Schritt weiter

Wir sitzen zu Hause oder in der Arbeit und wollen in Ruhe gelassen werden. Wir wollen arbeiten, lernen, leben, lieben, Kinder großziehen, Freizeit genießen, Spaß haben u.v.m. Wir wollen all das tun, was wir als Inhalte eines freien, selbstbestimmten Lebens ansehen und auch bei uns über Jahrzehnte gewohnt waren.

Wenn wir das in Freiheit tun wollen, können wir mit den Totalitaristen und Autoritären keinen Schritt weiter gehen. Wir müssen ihnen widersprechen, sie boykottieren und wir dürfen sie nicht wählen. Wir müssen uns auch ihrer Propaganda widersetzen. Wir müssen zu unserer Verfassung stehen und alle Angriffe auf sie ablehnen, auch wenn sie in rhetorischen Ballkleidern wie dem der »Neuinterpretation« auftreten. Müssen Menschenrechte neu interpretiert werden? Müssen Mord, Raub und Diebstahl neu interpretiert werden? Nein. Sie sind definiert. Es braucht ein starkes Recht. Das Recht ist dann stark, wenn man es lebt.

Freiheit für sich und Andersdenkende

Das sei auch all jenen gesagt, die – wie es nun schon Usus geworden ist – ein österreichisches Verfassungsgesetz, nämlich das Neutralitätsgesetz, das das freie Österreich am 26. Oktober 1955 mit Zweidrittelmehrheit (gegen die Stimmen des VdU, der Vorgängerorganisation der späteren FPÖ) beschlossen hat, in lässigen Social-Media-Postings lächerlich machen oder für ohnehin nichtig erklären. Jedes Gesetz muss immer in der Gegenwart mit Sinn und Leben erfüllt werden, sonst hat es keinen Sinn. Die Änderung bedarf einer Zweidrittelmehrheit. Auch der Respekt davor ist Respekt vor dem Rechtsstaat. Seltsam, dass gerade die, die auf den Rechtsstaat pochen, das Recht so oft lächerlich machen und aushebeln wollen.

Ich beschwöre all jene Kräfte, die die Demokratie und Freiheit erhalten wollen. Sie müssen sich darüber im Klaren sein, dass sie damit auch die Andersdenkenden, jene, die anderen Parteien als sie selbst angehören und andere Meinungen haben, erhalten müssen. Wer sich, um den Gegner zu verschlingen, dem Unrecht anschließt, sägt letztlich auch den Ast ab, auf dem er sitzt. Die neuen Autoritären und Totalitären sind im Vormarsch. Wer der Meinung ist, dass gerade sie oder er von ihnen in Ruhe gelassen werden wird, irrt sich gewaltig.

Autor

  • Daniel Wisser

    Daniel Wisser ist preisgekrönter Autor von Romanen und Kurzgeschichten. Scharf und genau beschreibt er, wie ein Land das Gleichgewicht verliert.

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