Samstag, Dezember 6, 2025

Erspart uns das Lesen, erspart uns das Denken

Überall wird gespart, nur nicht bei Waffen. Dabei können in Österreich viele Leute nicht ausreichend lesen um komplizierte und kritische Texte zu verstehen.

Welche Zeitung, welches Medium man zurzeit auch liest, überall ist vom Sparen und von Sparkursen die Rede. »Vom Sparkurs wird nichts verschont«, soll ORF-Generaldirektor Roland Weißmann laut Medienberichten gesagt haben. Ich befürchte, dass er recht hat. Und ich befürchte zweitens, dass ich das »nichts«, von dem er spricht, gut kenne.

Zur selben Zeit lese ich, dass die Ausgaben der Europäischen Union für Rüstung und Militär auf den Rekordwert von 343 Milliarden Euro gestiegen sind, aber laut Kommission – und jetzt kommt’s – noch immer nicht hoch genug sind.

Wo nicht gespart wird

Dass der ORF »sparen muss« ist kein Naturgesetz, sondern ein Beschluss. Das bedeutet, dass die dem Staat zur Verfügung stehenden Mittel dafür nicht ausgegeben werden oder lieber anderswo. Das »nichts« von dem ORF-Generaldirektor Roland Weißmann spricht, ist also nicht nichtig, sondern wird nur von politischen Instanzen als minderwertig eingestuft.

Wenn »gespart werden muss«, wird irgendwo weniger Geld aus dem Staatsbudget ausgegeben. Bei der Förderung von Boulevardmedien in jedem Fall nicht. Sie haben über Jahre und Jahrzehnte – wie auch die Regierungsinseraten von Ministerien in Boulevardmedien – schwindelnde Höhen erreicht. Ihr Effekt auf die Politik bleibt nicht aus. Auch nicht der, auf die Entscheidungen des Wahlvolks.

Unter dem Durchschnitt

In einer parlamentarischen Anfrage aus dem Jahr 2016 an die damalige Bundesministerin für Bildung und Frauen heißt es: »970.000 funktionale Analphabeten gibt es laut vorjährigen Medienberichten in Österreich. Diese Bürger im Alter von 16 bis 65 Jahren haben eine Lese- und Schreibschwäche. 17,1 Prozent der Österreicher sind funktionale Analphabeten, ergab die PIAAC-Studie 2013. Damit liegt Österreich bei der Lesekompetenz unter dem Durchschnitt jener OECD-Länder, die am internationalen Vergleich teilgenommen haben. 100.000 konnten mangels Lese- und Schreibfähigkeit an der Studie gar nicht teilnehmen. Als funktionaler Analphabetismus wird die Unfähigkeit bezeichnet, die Schrift im Alltag so zu gebrauchen, wie es im sozialen Kontext als selbstverständlich angesehen wird.«

Egal welche Daten damals herangezogen wurden; wie die Statistiken heute aussieht und was sich in diesem Bereich getan hat, kann man aus einem frei zugänglichen Dokument der Statistik Austria vom Dezember 2024 erfahren. Die Überschrift lautet Anteil von Personen mit niedriger Lesekompetenz deutlich angestiegen: »Rund 1,7 Mio. Menschen in Österreich verfügen über niedrige Lesekompetenzen und sind dadurch mit Nachteilen in Beruf und Alltag konfrontiert. Der Anteil der Personen mit niedrigen Lesekompetenzen ist zwischen 2011/12 und 2022/23 von 17 % auf 29 % stark angestiegen. Diese Gruppe ist hinsichtlich ihrer Lesekompetenzen aber uneinheitlich zusammengesetzt. Ein Teil davon kann auf Deutsch entweder überhaupt nicht lesen oder nur Bedeutungen auf Satzebene verarbeiten beziehungsweise die Sinnhaftigkeit von Sätzen beurteilen. Andere wiederum können sehr wohl kurze Texte verstehen. Gemeinsam ist diesen Personen jedoch, dass sie Schwierigkeiten haben, längere Texte mit einigen ablenkenden Informationen zu verstehen.«

Stärkste Fraktion

Der Staat sollte also wissen, was er benötigt und wofür er Geld benötigt; besonders, wenn es darum geht, dass mündige Bürger gewissenhafte Entscheidungen fällen. Denn ob die Bürger lesen und schreiben können oder nicht, sie können wählen. Und ab diesem Punkt ist für mich nicht mehr verständlich, warum die Ausgaben für Bildung, Wissenschaft, Kultur und informative Medien nicht sofort vervierfacht werden.

Wer will einen Staat oder eine Europäische Union haben, in der jedes Jahr mehr Geld für Militär und Waffen ausgegeben wird, dessen Analphabetenrate aber bereits bei 30 Prozent liegt? 30 Prozent – das ist eine Größe, mit der man bei Nationalratswahlen heute in Österreich stärkste Fraktion wird.

Aussichten

Ich lebe (noch) vom Verfassen von Texten. Ich möchte Texte schreiben und möchte, dass diese Texte gelesen werden. Ich möchte, dass diese Texte die Menschen durch ihre Form ansprechen und unterhalten; ich möchte aber auch, dass diese Texte den Menschen etwas sagen, etwas mitteilen, von dem ich der Meinung bin, dass es von Relevanz ist. Doch das Verstehen dieser Texte hat bestimmte Voraussetzungen – die übrigens über den funktionalen Alphabetismus weit hinausgehen.

Ich lebe also in einer Gesellschaft, in der mein potentielles Publikum täglich kleiner wird. Das heißt, die Aussichten, dass Menschen ein Buch von mir kaufen und es mir so ermöglichen, meinen Lebensunterhalt zu verdienen, werden schlechter. Sie sparen und ersparen sich das Lesen und mir ersparen sie das Sparen. Vermutlich sollte ich zumindest mittelfristig ein anderes Produkt herstellen, am besten: Waffen.

Die Idee der Gleichheit

Ich weiß von vielen Menschen nicht, wie sie sich die zukünftige Gesellschaft vorstellen. Ich bin aufgewachsen mit der Idee, dass eine möglichst große Gleichheit unter den Menschen die Gesellschaft friedlicher und zufriedener macht; dass wir die Greuel von Kriegen, Gewalt, Verfolgung etc. zu verhindern suchen, indem wir möglichst allen dieselben Möglichkeiten geben. Denn Gleichheit bedeutet natürlich nicht, dass die Menschen gleich sind – jeder Mensch ist anders als die anderen. Gleichheit bedeutet, dass jeder Mensch uneingeschränkt am öffentlichen Leben teilnehmen können soll und nicht benachteiligt oder ausgeschlossen wird.

Diese Idee scheint mir heute in Verruf geraten zu sein. Das Interesse des Einzelnen, dass andere durch eine Vergemeinschaftung von Bildung und Information die Möglichkeit erhalten, sich selbst zu mündigen und in öffentlichen Vorgängen partizipativen Bürgern zu machen, scheint mir einem Egoismus gewichen zu sein. Dieser Egoimus sagt: Ich kümmere mich um mich selbst und meine Kinder; die anderen sollen schauen, wie sie zu dem kommen, was sie brauchen.

Wie in allen Bereichen ist der Umbau von der Demokratie in die Oligarchie auch hier die treibende Kraft: Die Vermögenden können sich alles leisten, was sie wollen. Wie es den anderen geht, ist ihnen gleichgültig. Sie bekennen ja auch zum Teil schon ihre feindliche Einstellung zur Demokratie, also ist ihnen ein mehrheitlich analphabetisches Volk, das nicht mehr kritisch denken kann, weil es nicht mehr lesen und verstehen kann, nur recht.

Ich frage mich aber, ob die Mehrheit der Menschen dieses Abdriften in die Barbarei schon verstanden und durchschaut hat. Und vor allem, ob sie verstanden haben, dass wir eine Gesellschaft sind, die nicht aus Not und Elend in die Barbarei abdriftet, sondern die aus Wohlstand und Faulheit barbarisch wird. Ich würde mir das noch einmal überlegen.


Titelbild: Miriam Moné

Autor

  • Daniel Wisser

    Daniel Wisser ist preisgekrönter Autor von Romanen und Kurzgeschichten. Scharf und genau beschreibt er, wie ein Land das Gleichgewicht verliert.

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