Beim Versuch, das Gutachten des Berliner Gerichtsmediziners Michael Tsokos zu beschaffen, verirrte sich die Staatsanwaltschaft Krems in einen nordhessischen Hofladen.
Am 22. Mai 2025 wandte sich eine verwunderte deutsche Staatsanwältin an die Leitung der Staatsanwaltschaft Krems: „Sehr geehrte Damen und Herren, heute erreichte mich Ihre Europäische Ermittlungsanordnung.“ Die deutsche Beamtin hatte über die EEA – die Europäische Ermittlungsanordnung – ein Rechtshilfeersuchen aus Krems erhalten. Darin forderte die Kremser Staatsanwältin Anna M. ihre deutschen Kollegin auf, das gerichtsmedizinische Gutachten von Prof. Michael Tsokos, das im Buch „Pilnacek – der Tod des Sektionschefs“ zitiert wurde, zu besorgen. Als Anschrift gab Krems einen Hofladen in einem Dorf in Nordhessen an.
„Bevor entschieden werden kann, werden Sie um Mitteilung gebeten, woher Sie die Information bekamen, dass der renommierte deutsche Rechtsmediziner Prof. Dr. Michael Tsokos in einem Hofladen in einer nordhessischen Kleinstadt aufhältig oder gar wohnhaft sein soll.“ Die deutsche Staatsanwältin hatte nach einer kurzen Internet-Recherche herausgefunden, was ihrer Kremser Kollegin verborgen geblieben war: „Nach den Internetrecherchen dürfte sich Dr. Tsokos in Berlin aufhalten.“
Keine andere Adresse
Einen Tag später wandte sich eine hilflose Kremser Staatsanwältin noch einmal an ihre Kollegin in Kassel: „Sehr geehrte Frau Staatsanwältin B., ich übermittle anbei Auszüge der Homepage des Dr. Tsokos, auf welcher die in der EEA angeführte Adresse zu finden ist. Eine andere Adresse konnte hierorts nicht erhoben werden. Besten Dank für Ihr Bemühen!“

Auf Seite 28 meines Buches „Pilnacek – der Tod des Sektionschefs“ hatte ich Michael Tsokos vorgestellt: „Prof. Dr. Michael Tsokos leitete lange die Gerichtsmedizin am Berliner Krankenhaus Charité und arbeitet heute als Direktor des Landesinstituts für gerichtliche und soziale Medizin Berlin.“ Dort erreicht man ihn problemlos per Brief oder Mail. Eine kurze Suche im Internet hätte genügt, um seine dienstliche Adresse in Berlin herauszufinden: Turmstraße 21, Haus L, 10559 Berlin.
Wie hatte sich die Staatsanwältin aus Krems in den nordhessischen Hofladen verirrt? Die Antwort ist verblüffend einfach: Die Oberstaatsanwaltschaft Wien hatte die Staatsanwaltschaft Krems am 22. April 2025 angewiesen, eine Wiederaufnahme der Ermittlungen zum Tod von Christian Pilnacek zu prüfen und dazu die gerichtsmedizinischen Gutachten aus dem Pilnacek-Buch zu besorgen.
Die Kremser Staatsanwältin Anna M. hatte dazu am 30. April 2025 angeordnet, nicht – wie üblich – bei den Auftraggebern in Wien, sondern direkt bei den Gutachtern in Tirol und Deutschland vorstellig zu werden.
Wanfried
Aber wo befand sich der Berliner Gerichtsmediziner Prof. Michael Tsokos? Dazu hatte sich die Kremser Beamtin ins Internet begeben, „Michael Tsokos“ eingegeben und die Ankündigung einer Tsokos-Veranstaltung im Laden der Familie Grebenstein entdeckt. Der Hofladen der Grebensteins liegt in Wanfried-Völkershausen und wird im Internet so beschrieben: „Völkershausen liegt etwa drei Kilometer südlich von Wanfried an der Werra. Das Dorf Völkershausen ist der kleinste Stadtteil von Wanfried im nordhessischen Werra-Meißner-Kreis.“
Der Hofladen warb auf seiner Homepage für eine Veranstaltung mit Michael Tsokos für den 25. April 2025: „Erleben Sie einen unvergesslichen Nachmittag mit dem Master of True Crime, Prof. Dr. Michael Tsokos, im exclusiven Ambiente des Alten Schmirgelwerks in Wanfried.“ Im Schmirgelwerk war nur begrenzt Platz: „Es handelt sich hierbei um eine exclusive Veranstaltung, die streng auf maximal 120 Personen limitiert ist und die es nur bei uns zu buchen gibt.“ Um 169 Euro konnte man beim Hofladen buchen und dabeisein.
Für die Veranstaltung stand Tsokos im Impressum des Werbeprospekts: „Dr. Michael Tsokos, c/o Hofladen Grebenstein, Dorfstrasse 18, 37281 Wanfried“. Dieselbe Adresse verwendet Tsokos auch auf seiner Homepage, über die er seine Produkte von Büchern bis zu Veranstaltungskarten vertreibt. Mehr brauchte Krems nicht, um eine Europäische Ermittlungsanordnung nach Kassel zu schicken.

Da die Kremser Staatsanwältin nicht von der Hofladen-Spur abzubringen war, teilte ihr die Kollegin aus Kassel am 23. Mai 2025 mit: „Ich werde die Ermittlungen an der Anschrift in Wanfried aufnehmen, um zu eruieren, ob Dr. Tsokos dort erreicht werden kann. Eine Abfrage über das Einwohnermeldeamt verlief von hier aus bislang nämlich auch ohne Erfolg.“
Spur kalt
Am 23. Juni 2025 begab sich die Regionale Kriminalinspektion – K 30 nach Völkerhausen und stellte dort fest: „Die Anschriften Dorfstraße 18 bzw. Dorfstraße 3 in Völkershausen wurden am 23.06.2025 durch mich und Kriminalhauptkommissar Koll. B. aufgesucht. Vor Ort konnte niemand angetroffen werden. Hinweise darauf, dass der Herr Dr. Michael Tsokos dort wohnhaft ist, konnten ebenfalls nicht festgestellt werden.“
Die beiden Beamten brachten neue Erkenntnisse vom Hofladen mit: die Handynummer und die Privatadresse von Michael Tsokos. Wenig überraschend führte auch sie nach Berlin.

Am 3. Juli 2025 war die Hofladen-Spur endgültig kalt. Die Staatsanwaltschaft Kassel hatte alles Notwendige herausgefunden und informierte Krems: „Die Weiterleitung Ihrer Europäischen Ermittlungsanordnung an die Staatsanwaltschaft Berlin erfolgt, weil die hiesigen Ermittlungen ergeben haben, dass der Zeuge Dr. Tsokos in Berlin wohnhaft ist.“ Als Abschiedspräsent legte die Staatsanwaltschaft Kassel die Dienstadresse bei: „Turmstraße 21, Haus L, 10559 Berlin“.
Die Staatsanwaltschaft Krems weiß natürlich, dass man das Tsokos-Gutachten am einfachsten über den Auftraggeber erhalten kann. Doch Rechtsanwalt Volkert Sackmann wartet ebenso wie ich seit Monaten vergeblich auf Post aus Krems. Bevor sich die dortige Staatsanwaltschaft an die Auftraggeber in Wien wendet, irrt sie lieber durch Wanfried.
Unfähig und befangen
Mit ihrer Hofladen-Durchsuchung hat sich die Staatsanwaltschaft Krems zur Lachnummer gemacht. Viele fragen sich jetzt, wie eine Staatsanwaltschaft, die nicht in der Lage ist, die Adresse eines der bekanntesten deutschen Gerichtsmediziners herauszufinden, die Wiederaufnahme von Ermittlungen, die sie selbst verpfuscht hat, prüfen kann. Fabian Schmid kommt im Standard zu einem klaren Schluss: „Die Behörden dürfen sich nicht quasi selbst prüfen. Das Verfahren muss weg aus Krems.“ Wohl auch, weil eine Staatsanwaltschaft nicht dümmer sein darf als die Ministerin erlaubt.
Titelbild: Wikicommons- GeorgDerReisende / Logo- Hofladen Grebenstein / Michael Tsokos / Montage
