Sätze wie »2015 darf sich nicht wiederholen«, hört und liest man in diesen Tagen oft. Doch kaum jemand meint damit das, was damals tatsächlich geschehen ist: Flüchtlinge aus den Ländern, in denen Putin Krieg geführt hat, wurden Sündenböcke, während man Putin hofiert hat. Autor Daniel Wisser hat Lukas Gahleitner-Gertz, den Sprecher der Asylkoordination Österreich, interviewt.
Daniel Wisser: Sie haben dieses Wochenende einen mehrteiligen Thread auf Bluesky gepostet, der eine vom Innenministerium herausgegebene Asylstatistik kritisiert. Können Sie die Fehldarstellung in dieser Statistik einfach erklären?
Lukas Gahleitner-Gertz: Konkret ging es um die Berichterstattung reichweitenstarker Online-Medien wie Orf.at, Krone und Standard, die über die monatliche Asylstatistik berichtet haben. Das Innenministerium veröffentlicht jedes Monat eine Antrags- und Leistungsbilanz zum Asylbereich. Diese Statistik wird begleitet durch eine Presseaussendung des Innenministeriums, wo einige Zahlen herausgegriffen werden, die eine politische Erzählung des ÖVP-geführten Innenministeriums unterstreichen sollen.
Wovon soll diese politische Erzählung ablenken?
Davon, dass es tatsächlich im Juli einen Antragsanstieg im Vergleich zu den Vormonaten und die zweithöchste Anzahl von Familienzusammenführungen im Jahr 2025 gab. Die Krone hat dann daraus eine Folgeantragsflut von afghanischer Frauen gemacht, die aus den Juli-Zahlen nicht ablesbar ist.
Wenn ich Sie recht verstehe, ist bereits mehrfach so vorgegangen worden, dass das BMI diese Statistiken am Wochenende ausgibt. Vermuten Sie hinter der Veröffentlichung am Wochenende bestimmte Absichten?
Für das Innenministerium ist der Asyl- und Fremdenrechtsbereich nicht bloß eine Frage der gesetzeskonformen Verwaltung. Im Vordergrund steht die politische Verwertbarkeit. Dabei geht es der ÖVP primär um die Deutungshoheit, die vor allem durch den Informationsvorsprung erreicht werden soll: Die Zahlen werden nicht bloß veröffentlicht, sondern bereits in einer Erzählung verpackt. Dafür wird ein Zeitpunkt gewählt, an dem die Redaktionen nur schütter besetzt sind. Checks der Zahlen oder tiefergehende Recherche ist unter diesen Voraussetzungen unmöglich. Nicht zu berichten ist gleichzeitig für die Redaktionen von Qualitätsmedien auch keine Option, weil das Thema Asyl viel geklickt wird und es die Boulevardmedien jedenfalls bringen. All das weiß das Innenministerium natürlich und nützt diese Situation aus, um seine Erzählung durchzubringen.
“Die Daten- und Faktenlage hat sich seit 2015 verbessert”
Was ist das für eine Erzählung?
Das ist eine Erzählung, mit der das Ministerium Kontrolle simuliert. Es wird suggeriert, dass effektive Maßnahmen gesetzt wurden, die nun greifen. Das ist aber aus den Statistiken eindeutig nicht ablesbar.
In den letzten Wochen fällt auf, dass sich in den Medien Altpolitiker wie Sebastian Kurz vermehrt mit Statements zur »Migration« melden. Diese Statements lesen sich, als wären sie zehn Jahre alt. Wiederholt sich 2015 nicht eher in den Köpfen derer, die von nichts anderem reden?
Versteht man unter der Chiffre »2015« eine große Flüchtlingsbewegung nach Europa, dann hat es bereits eine Wiederholung gegeben: 2022/23 hat es mehr Asylanträge als 2015 in Österreich gegeben. Meint man damit das staatliche Versagen, das 2015 den vielmals bemühten Kontrollverlust bei der Bevölkerung ausgelöst hat, dann kann es aufgrund der mangelhaften Zusammenarbeit von Bund und Ländern leider jederzeit wieder passieren. In Bezug auf die Bundesbetreuung ist es zu einer gewissen Professionalisierung und Schaffung von Vorhaltekapazitäten gekommen; in den Ländern gibt es eher Rückschritte.
Und bei den Daten und Fakten?
Grundsätzlich hat sich die Daten- und Faktenlage seit 2015 verbessert. Es gibt nun regelmäßige Berichte zu den zentralen Parametern. Das hat sich aber nur spärlich auf die Berichterstattung ausgewirkt: Vor allem die Boulevardmedien reißen gerne irgendwelche Zahlen kontextlos heraus, um eine »Hammer-Schlagzeile« zu zimmern, die viel Aufmerksamkeit generiert.
Ist gegen die populistische Ausschlachtung der Zuwanderung für politische Propaganda ein Kraut gewachsen?
Wir scheitern momentan als Gesellschaft daran, uns auf eine gemeinsame Daten- und Faktengrundlage zu einigen. Das ist der Grundfehler. Ich sehe das als eines meiner Hauptaufgabengebiete an: Weniger eine bestimmte Position zu vertreten, als vielmehr Daten und Fakten zu liefern, die die Situation, wie sie ist, am besten beschreiben. Dass einige, die mehr Interesse am Problem als an der Lösung haben, das torpedieren, ist leider auch Realität.
Asyl ist in Österreich rechtlich genau geregelt. Warum gelingt es regelmäßig, geltendes Recht und geltende Verfassungsgesetze in Frage zu stellen, wo doch gerade die angeblichen Hardliner so auf den Rechtsstaat bestehen?
Kaum ein Rechtsbereich erfährt öffentlich so viel Aufmerksamkeit wie jener von Asyl. Alle haben eine Meinung dazu. Gleichzeitig gibt es aber einen großen Mangel an Wissen. Das ergibt einen gefährlichen Mix. Zusätzlich werden viele Dinge vermischt. Das Asylrecht sieht zum Beispiel Ausschluss- und Endigungsgründe vor: Bei schweren Straftaten kann und wird auch der Schutztitel entzogen. Davon zu unterscheiden ist aber, ob dann eine Person auch tatsächlich zwangsweise außer Landes gebracht werden kann. Der Staat darf Zwangsmaßnahmen setzen, aber nicht schrankenlos. So ist es dem Staat verboten, eine Person der Folter oder unmenschlicher Behandlung auszusetzen. Dieses Recht ist notstandsfest, es kommt jedem Menschen unabhängig von Geschlecht, Alter oder Strafregister zu. Das ist eine der zentralen Lehren aus der Shoah. Daran wird gerüttelt.
“Österreich finanzierte Putins Feldzug in Syrien mit”
Wird also die Politik in unserer Zeit autoritärer oder die Gesellschaft?
Dass die Exekutive sich daran stößt, dass sie sich an Regeln halten muss, und mehr Befugnisse haben möchte, ist keine Neuigkeit. Dass aber nun auch in weiten Teilen der Bevölkerung eine Sympathie für die Einschränkung von Individualrechten zugunsten einer Ausdehnung von staatlichen Befugnissen entsteht, ist Ausdruck einer autoritärer werdenden Gesellschaft. Die Infragestellung des Rechtsstaats wird dann von der Politik übernommen mit dem Hinweis, die Bevölkerung wolle das ja so. Der Asylbereich ist ein Experimentierfeld für die Politik, weil hier die Einschränkung von Rechten ja vor allem einmal »die Anderen« betrifft.
Wieso können wir so wenig darüber lesen, aus welchen Ländern Menschen fliehen, wovor sie fliehen mussten und wie die Außenpolitik in Österreich diese Krisengebiete behandelt. Aus vielen dieser Länder importieren wir ja Rohstoffe und exportieren Güter dorthin.
Das Asylrecht hat auch eine Warnfunktion: Wenn viele Menschen fliehen müssen, beziehungsweise Schutz suchen, ist das ein Zeichen dafür, dass etwas falsch läuft. Aber anstatt die Ursache zu suchen, bekämpfen wir lieber das Symptom: die Geflüchteten. Beispiel Syrien: Über die Hälfte aller Schutztitel in Österreich in den letzten 10 Jahren wurde an syrische Staatsangehörige erteilt. Die grausame Assad-Diktatur interessierte in Österreich nur wenige. Die Bombardierung von syrischen Zivilisten in Wohngebieten durch Putins Russland an der Seite von Assad kümmerte die österreichische Politik wenig. Im Gegenteil: Unter Sebastian Kurz warf man sich Putin an die Brust und ignorierte den hohen Preis von billigem russischen Erdgas.
Und unterstützte damit den Krieg?
Zugespitzt kann man sagen: Österreich finanzierte Putins Feldzug in Syrien mit. Die meisten Geflüchteten, die in den letzten 20 Jahren nach Österreich gekommen sind, kamen aus der Ukraine, Tschetschenien und Syrien. Diese Regionen verbindet, dass Putin dort Krieg geführt hat. Dennoch hat man Putin hofiert, während die Geflüchteten die Sündenböcke der Innenpolitik gewesen sind.
In der FPÖ und der ÖVP gibt es immer wieder Stimmen für eine »Abschaffung«, »Änderung« oder »Neuinterpretation« der EMRK. Wie sehen Sie solche Forderungen?
Das ist de facto ein Angriff auf die Gleichheit der Menschen, eine zivilisatorische Errungenschaft, die wir nach der industriellen Vernichtung von Menschen, denen man im Zweiten Weltkrieg die Menschenwürde abgesprochen hat, hoch halten sollten. Diese Forderungen sind geschichtsvergessen und gefährlich. Absolut geltende Menschenrechte wie das Folterverbot und das Verbot der Sklaverei gibt es aus guten Gründen.
“Die Durchsetzung von Menschenrechten ist kein Schönheitswettbewerb.”
Gefährliche Forderungen und regelmäßige Falschdarstellungen mit denen Sie täglich konfrontiert sind. Wie hält man das aus?
Wenn ich wo einen Unsinn lese, versuche ich herauszufinden, wie es dazu gekommen ist. Es hat oft etwas mit Überforderung zu tun, manchmal auch mit Voreingenommenheit. Da suche ich die Kommunikation, versuche zu erklären und auch zu diskutieren. Klar ist es auch ermüdend: Die Regierungsseite – speziell das Innenministerium – ist ressourcenmäßig übermächtig. Aber gar nicht so selten stolpern sie auch über den eigenen Spin. Ich habe nicht den Anspruch alles niederzureißen: Ich versuche meinen Teil dazu beizutragen und das Interesse ist groß, der Zuspruch auch.
Was prägt Sie also: Idealismus? Gerechtigkeitssinn? Überzeugung?
Ich habe eine klar antifaschistische Grundhaltung und sehe im verstärkt autoritären Verhalten der Regierungen eine massive Gefahr für den demokratischen Rechtsstaat. Migration in all ihren Formen ist nicht per se gut oder schlecht, sondern Realität. Wir alle haben es in der Hand, wie wir mit diesem Phänomen umgehen. Da kommt vor allem der Berichterstattung, den Mulitiplikator:innen und den Politiker:innen, eine große Verantwortung zu. Die Durchsetzung und Geltung von Menschenrechten und die Beschränkung von Allmachtsphantasien autoritärer werdender Regierungen entscheidet sich nicht erst dann, wenn es ohnehin privilegierte Menschen trifft. Sie entscheidet sich dann, wenn es um jene geht, die arm sind, die Pech hatten, die Fehler gemacht haben, die anders sind oder die eben fremd sind. Auch wenn es unpopulär ist: Die Durchsetzung von Menschenrechten ist kein Schönheitswettbewerb.
Herzlichen Dank, dass Sie sich Zeit genommen haben.
Ich danke herzlich für das Interview.
Titelbild: Lukas Gahleitner-Gertz, HANS PUNZ / APA / picturedesk.com / HELMUT FOHRINGER / APA / picturedesk.com
