Paranoide Weltbilder, Gleichschaltung und Tyrannei: die amerikanische Tragödie sollte uns eine Warnung sein.
Das Problem an der „Geschichte“ – also der großen „Weltgeschichte“ – ist, dass die Nachgeborenen ihren Ausgang immer schon kennen und in der Geschichtsschreibung gar nicht anders können, als mit unserem Wissen von heute zu operieren. Wir lesen sie gewissermaßen von hinten. Deswegen habe ich mit so viel Bewunderung vor einigen Jahren das Buch „Februar 33“ von Uwe Wittstock verschlungen, das die Monate nach der Amtsübernahme von Adolf Hitler in Deutschland beschreibt. Oft wird in diesem Zusammenhang von der „Machtergreifung“ gesprochen, aber wie jeder weiß, ist Hitler mit den Mitteln der Demokratie und ganz nach den Regeln der parlamentarischen Verfahren zum Kanzler einer Koalitionsregierung ernannt worden. Dann ging es vom ersten Tag an los. Erst mit Nadelstichen gegen Oppositionelle und Minderheiten, bald mit Psychoterror, Einschüchterung, mit fragwürdigen Gesetzen, mit dem Bruch geltender Gesetze, mit dem Ignorieren von Gerichtsentscheidungen. Dann mit brutalem Terror und schließlich mit dem Ausnützen scheinbarer und tatsächlicher Verbrechen – allem voran des Reichstagsbrandes –, um alle Regimegegner fertig zu machen. Innerhalb weniger Monate waren Demokratie und Freiheit in Deutschland zerstört.
Uwe Wittstocks Buch ist deshalb so fantastisch, weil er diese Monate entlang von Zeugnissen, Briefen, Notizen von berühmten Literaten, unbekannten Journalisten, Leuten aus der Hautevolee und vieler anderer erzählt, die zu dem Zeitpunkt eben nur wissen konnten, was man damals wusste – und nicht, was wir heute wissen. Wir sehen ihre Panik, wie sie eingeschüchtert sind, wie sie sich in den Sack lügen, wie sie sich anbiedern, wie manche richtig ahnen, was da auf sie zukommt – und wie sich viele einreden, es werde schon nicht so schlimm kommen. Oder: Sie selbst würde es ja nicht treffen.
Die, die damals „Gelassenheit“ predigten und meinten, man solle doch nicht immer so alarmiert sein und gleich das Schlimmste vermuten, sind jedenfalls tragisch falsch gelegen. Später machte das bittere Bonmot die Runde: „Die Pessimisten sitzen in Hollywood und die Optimisten in Auschwitz.“ Soll heißen: Wer ausreichend alarmiert war, machte sich zeitgerecht aus dem Staub, wer sich einredete, es werde schon nicht schlimm kommen, der war dem Untergang geweiht.
Hochamt für Hassprediger
Die Trauerfeier für den ermordeten rechtsextremen Hassprediger Charlie Kirk wurde in den USA in eine bizarre Massenhysterie verwandelt, eine Zeremonie der Rache, in ein Hochamt von Ressentiment und Feindseligkeit. Es war eine der gestörtesten Veranstaltungen, die wir in unserer Lebenszeit gesehen haben. Redner um Redner peitschte die Emotionen hoch, es war eine jener Massensuggestionen, von denen Kurt Tucholsky einmal schrieb, sie seien „wie ein elektrischer Strom, der die Leute durchzuckt. Das ist sehr, sehr gefährlich.“ In den Augen der hasserfüllten Prediger war etwas, das einem das drängende Gefühl gab, sich schleunigst sehr weit weg aus dem Staub zu machen. Wie einst beim Reichstagsbrand wurde das Verbrechen vom ersten Augenblick an dafür benützt, gegen vermeintliche „innere Feinde“, die „radikale Linke“ aufzuwiegeln. Donald Trumps Vize-Stabschef Steven Miller, eine Art Goebbels für Arme, mit dem man weder dienstlich noch zu Kriegszeiten etwas zu tun haben möchte, erklärte die Demokratische Partei zur „inländischen extremistischen Organisation“. Der Präsident selbst wurde mit der unverblümten Aussage auffällig, Kritik an ihm sei „illegal“. Wenigstens bemühen sie sich nicht, ihre wahren Absichten zu verbergen, was freilich seit jeher nicht zur Stärke Donald Trumps gehört.
Die USA stürzen allmählich und zugleich rasant in eine Tyrannei, eine Decke der Unfreiheit senkt sich herab. Die von Zorn, Wut und Rachegelüsten vergiftete Macht überbietet sich in Lust an Grausamkeit, Zynismus und destruktivem Nihilismus, sie geilt sich geradezu darin auf. Die Anhängerschaft wird dabei in eine Masse von Rasenden verwandelt, in Bestien, aber auch mit Zusammengehörigkeitsgefühl ausgestattet. Wütende, die gemeinsam wütend sind, Rasende, die sich wechselseitig noch aufschaukeln, und die, mit jeder Steigerung des Irrwitzes, auch noch ein wohliges Gemeinschaftsgefühl bekommen. Man kennt das von Pogromen. Wahrscheinlich werden alle Beteiligten in diesem Rausch kollektiv noch einmal verrückter, als sie als Einzelne wären.
Paranoide Weltbilder, maximale Emotionalisierung
Faschistische Bewegungen zeichnet aus: Führerkult, paranoide Weltbilder, die permanent geschürt werden, absolutes Schwarz-Weiß-Denken, antagonistische Feindbilder – von Minderheiten und inneren Feinden. Das Schüren von Aggression gegen diese inneren Feinde. Maximale negative Emotionalisierung, um eine Anhängerschaft in eine erregte Masse zu verwandeln. So sehr es etwas Beängstigendes hat, dass wir das in unserer Lebenszeit noch erleben „durften“, so sehr hat es auch etwas Faszinierendes. Faszinierend, wie ein gut gemachter Horrorfilm.
Vom ersten Tag an hat die Trump-Regierung geradezu lehrbuchmäßig begonnen, den Staatsapparat zu säubern, ihn mit Speichelleckern und Radikalen zu besetzen, alle anderen einzuschüchtern und in Angst und Panik zu versetzen, um deren Gegenwehr zu lähmen. Die ICE – die Sondereinheit der Einwanderungsbehörde – wurde zu einer wilden Truppe vermummter Paramilitärs ausgebaut, die direkt dem Präsidenten untersteht und Jagd auf Immigranten oder einfach Leute macht, die irgendwie anders aussehen. Die werden dann in Internierungslager oder gleich in Lager nach El Salvador deportiert und dort wie Tiere gehalten und zur Freude der Freunde des Grausamen auch noch ausgestellt. Die Bestialität wird nicht verborgen, sondern auch noch öffentlich zelebriert.
Einschüchterung und Gleichschaltung
Die Einschüchterung von Andersdenkenden und regierungskritischen Stimmen ist wesentlich für den schnellen Umbau der Gesellschaft, und ebenso wesentlich ist, mit den Provokationen und Gesetzesbrüchen so rasant vorzugehen, dass die Gegenwehr gelähmt wird. Damit Gerichte nicht mehr nachkommen, gesetzwidriges Vorgehen zu beanstanden. Der Rechtsstaat steht nur mehr auf dem Papier. Die Partei von Joe Biden, Barack Obama, Bill Clinton wird als „extremistische Organisation“ an den Pranger gestellt. Und mit Menschenjagd im Internet, Shitstorms, konzertierten Diffamierungskampagnen wird dafür gesorgt, dass der Kreis der Mutigen, die noch wagen, den Mund aufzumachen, immer kleiner wird. Den Rest erledigen Trumps Milliardärsfreunde, die ein Ökosystem rechtsextremer Pseudo-Medienkloaken schaffen. Das Ziel ist die Gleichschaltung.
Sollten Sie sich fragen, warum es so schnell gelingt, dass gesellschaftlicher Widerstand zusammenbricht, dann gibt es dafür einen ganz entscheidenden Grund: Einschüchterung. Die Leute ziehen den Kopf ein, aus Angst um die persönliche Existenz, die Sicherheit ihrer Familien. Trumps Geistesbrüder und das Netzwerk von Hassportalen, Pseudomedien und rechtsextremen Social-Media-Portalen (vor allem Elon Musks X) schaffen das ja auch hier schon.
Man denke nur an die planmäßigen Diffamierungs-, Lügen- und Einschüchterungskampagnen gegen Frauke Brosius-Gersdorf (die in Deutschland erfolgreich als Verfassungsrichterin verhindert wurde), oder gegen die Journalisten Dunja Hayali, Elmar Theveßen und viele andere. Diese Kampagnen zielen nicht nur auf die Betroffenen, sondern mehr noch auf alle anderen potentiellen Widerspenstigen, denen klargemacht wird: Wenn du die Klappe aufmachst und eine abweichende Meinung äußerst, machen wir dich fertig.
Raserei und vollendeter Irrwitz
In völliger Raserei dreht die extreme Rechte mittlerweile gänzlich durch, und ähnlich wie beim physikalischen Prinzip kommunizierender Röhren trägt die Radikalisierung des amerikanischen Faschismus auch zur Radikalisierung hiesiger Rechter bei, die man vor wenigen Jahren noch „rechtspopulistisch“ nennen konnte – eine Charakterisierung, die heute längst grotesk verharmlosend wäre. Hassprediger wie Charlie Kirk werden wie Heilige und Märtyrer behandelt oder sogar zu Korsaren des Dialogs erklärt. Ein Mann, der die Todesstrafe für Joe Biden gefordert hat und völlig schamlos auch noch damit prahlte, er wäre bei dieser Exekution gerne dabei; ein rabiater Rassist, der schwarze Frauen wie Michelle Obama, die Oberste Richterin Ketanji Brown Jackson und andere mit den Worten herabwürdigte, sie hätten „nicht genug Gehirnleistung“; ein Antisemit, der nicht nur die paranoide Terroridee vom „Großen Austausch“ verbreitete, sondern auch meinte, einflussreiche Juden würden diesen „Bevölkerungsaustausch“ befördern, weil sie die Weißen ausrotten wollen. Und natürlich verbreitete er auch die Lüge, dass Donald Trump 2020 die Wahl gewonnen habe. Er wurde zu einem Opfer eines grässlichen Verbrechens, aber das macht ihn noch zu keiner vorbildlichen Person.
„Der Feind steht rechts“
Die Kultur der Freiheit, der Demokratie und des „leben und leben lassen“, dieser Spirit des Pluralismus, alles das, was den Westen nach 1945 stark, erfolgreich und auch zu einem Leuchtturm gemacht hat, alles das, was das Leben lebenswert gemacht hat, es wird heute nicht mehr bloß angegriffen – es steht auf der Kippe. Die Demokraten müssen jetzt zusammenhalten, welche Meinungsverschiedenheiten sie auch immer haben mögen; nicht einschüchtern lassen. Nicht in den Sack lügen. Nur ja nicht in falscher Sicherheit wiegen. Wie sagte Karl Joseph Wirth, bei Gott kein Linker, sondern bürgerlicher Zentrumspolitiker und 1922 Reichskanzler der Weimarer Republik: „Da steht der Feind, der sein Gift in die Wunden eines Volkes träufelt. – Da steht der Feind – und darüber ist kein Zweifel: dieser Feind steht rechts!“
Es ist eine Verpflichtung vor der Geschichte, alles zu tun, um das Geschenk der Freiheit, das frühere Generationen unter schweren Opfern erkämpft haben, für unsere Nachkommen zu bewahren. Welche Schande wäre es, wenn wir versagen würden?
Wenn die Welt in einem Ozean des Autoritarismus untergeht, ist es unsere Pflicht und Chance, Europa zum Leuchtturm der Freiheit zu machen.
Wir haben nicht das Recht, zu scheitern.
Titelbild: Miriam Moné, pixabay, Wikimedia Commons
