Die Neuübersetzung eines Essays von Aldous Huxley aus dem Jahre 1946 wirft mit erstaunlicher Präzision Fragen auf, die auch die Fragen unserer Zeit sind. Ein Buch, das uns zu denken geben sollte; das uns aber auch zum Handeln bringen sollte.
In der Trivial-Sachbuch-Schwemme der »Das-darf-man-heute-ja-nicht-mehr-sagen«-Literatur sollte ein kleines Büchlein nicht untergehen, das dieser Tage erschienen ist. Es handelt sich um den Essay »Science, Liberty and Peace« von Aldous Huxley aus dem Jahr 1946. Herberth Herlitschka hatte ihn 1947 als »Wissenschaft, Freiheit und Frieden« übersetzt.
Im Hanser Verlag ist er nun in neuer Übersetzung durch Jürgen Neubauer erschienen, und zwar mit dem ein wenig mit dem Zeitgeist spekulierenden Titel »Zeit der Oligarchen«. Doch das nimmt dem Text nichts von seiner Treffsicherheit. Und es nimmt dem Text, der achtzig Jahre alt ist, nichts von seiner beklemmenden Gültigkeit für unsere Zeit. Schon mit dem ersten Absatz hat es mich in seinen Bann gezogen:
»Bei einer derart schlechten Einrichtung der Gesellschaft wie der unseren, in der eine kleine Zahl von Menschen die Macht über die Mehrheit hat und diese unterdrückt, dient jeder Sieg über die Natur unweigerlich nur dazu, Macht und Unterdrückung zu vergrößern. Und genau das geschieht heute.« Fast ein halbes Jahrhundert ist vergangen, seit Tolstoi diese Worte geschrieben hat, und nichts hat sich seither daran geändert.
Materieller Vorteil und Freiheit
Addieren wir also zu den achtzig Jahren, vor denen Huxley diese Zeilen schrieb, die fünfzig Jahre zum Tolstoi-Zitat, so sind es schon 130 Jahre, die offensichtlich andere Methoden und Entwicklungen, aber keine Verbesserung in Verteilungsfragen gebracht haben. Freilich kannte Huxley die globalisierte Oligarchie nicht, die heute über uns regiert, statt dass wir selbst regieren. Wohl aber konnte er sich ausrechnen, dass die Entwicklung immer besserer technischer Methoden die Kumulation von Kapital und Macht und dieser technischen Methoden in den Händen weniger nicht beschränken oder gar aufhalten würden:
Gibt es eine Möglichkeit, die materiellen Vorteile der modernen Technik nicht nur mit Sicherheit, sondern auch mit Freiheit in Einklang zu bringen? Ich schließe mich den Dezentralisten an und bin der Ansicht, solange die Ergebnisse der Wissenschaft nur zu dem Zweck angewandt werden, unser System der Massenproduktion und -distribution immer raffinierter und spezialisierter zu gestalten, so lange kann es nichts anderes geben als eine immer größere Zentralisierung der Macht in immer weniger Händen.
Die Freiheiten des Bürgertums
In einer Welt, in der kein einziger bedeutender Staatschef mehr aus der Volksvertretung oder einer politischen Emanzipationsbewegung hervorgegangen ist und somit keine Methoden des Widerstands und des politischen Kampfs und keine ethischen Richtlinien für sein Handeln erlernt hat, darf die propagandistische Vernutzung des Freiheitsbegriffs nicht verwundern, wie sie uns in den Quatsch-Büchern der sogenannten „Philosophen“ begegnet, die unter steigender Selbstunterforderung am laufenden Band Wühlkistenliteratur zu angeblich politischen Themen produzieren. Wenn die Freiheiten, die das Bürgertum einst hart erkämpfen musste, ihm selbst nichts mehr wert sind, führt uns seine Radikalisierung in die schlimmsten Krisen von Demokratie und Menschlichkeit. Kurz nach einer solchen, im Jahr 1946, entstanden diese Zeilen:
Und die Konsequenz dieser Zentralisierung der wirtschaftlichen und politischen Macht ist der fortschreitende Verlust der bürgerlichen Freiheiten, der persönlichen Autonomie und der Selbstbestimmung für die breite Bevölkerung. Doch an dieser Stelle müssen wir anmerken, dass es an den Erkenntnissen der objektiven Wissenschaften nichts gibt, was uns dazu zwingen würde, sie in den Dienst eines zentralisierten Finanzwesens, der Industrie und des Staats zu stellen.
Das völlige Scheitern
Was Huxley und auch Orwell nicht ahnten: dass es einmal Reiche oder Oligarchen geben würde, die politisch auf ganze Staaten Einfluss nehmen und sie sogar regieren würden. So ist es heute der Fall und die bürgerliche Gesellschaft arbeitet mit Hochdruck daran, ihre Informationsflüsse dahingehend zu manipulieren, dass die breite Masse von Elend, Not und Sterben jener Menschen in fremden Ländern nichts erfahren. Eine Vielzahl an Menschen leidet dort unter dem Export westlicher Waffen an Konfliktparteien und der Ausbeutung billiger Rohstoffe. So vermehrt sich mit der rasant wachsenden Weltbevölkerung auch die Anzahl der Flüchtenden. Und nun steht mit dem Flüchtling jemand an unseren Grenzen, der uns beim Ignorieren der Zustände, die in dem Land herrschen, aus dem er geflohen ist, einen Strich durch die Rechnung macht.
Mit der Abschiebung oder »Deportation«, die ein Karner, Merz oder Trump heute stolz verkündet, gibt er nur das völlige Scheitern seines politischen Systems und die Kurzsichtigkeit seines Handelns zu. Es können Tausende Minister und Kommissare ernannt werden, um sich mit »Migrationsfragen« zu beschäftigen. Wenn sie die Wurzeln des Problems nicht sehen, ist ihr Amt sinnlos, ja, sie sind nur mit politischer Rhetorik beschäftigt, die den Menschen irgendetwas Beruhigendes erzählen soll. Huxley sagt es so:
Wenn es Politikern mit ihrem lauthals verkündeten Wunsch nach Frieden ernst wäre, dann würden sie alles in ihrer Macht Stehende tun, um die absolut unlösbaren Machtfragen zu umgehen und in internationalen Konferenzen und diplomatischen Diskussionen ihre gesamte Aufmerksamkeit auf das eine große Problem zu richten, das alle Angehörigen der Menschheit betrifft: das eine große Problem, das sich nicht nur mit militärischer Gewalt lösen lässt, sondern das vollkommen unlösbar ist, solange die alten Kriegs- und Machtspiele fortgesetzt werden. Der erste Punkt auf der Tagesordnung jedes Treffens der Nationen aus aller Welt sollte also sein: „Wie können alle Männer, Frauen und Kinder genug zu essen bekommen?“
Titelbild: Manon Verét
