Samstag, Dezember 6, 2025

Migration, ja bitte!

Die multikulturelle Realität, Lebensqualität und heutige Lebensart, sollte mit mehr Leidenschaft verteidigt werden.

Vor ein paar Tagen brachte die „Presse“ einen Leitartikel, der schon im dicken, fetten Titel verkündete: „Österreich braucht dringend mehr Kinder.“

Das ist sicher nicht falsch, zugleich aber auch komisch. Denn gerade hatte man eine „Notlage“ ausgerufen, weil durch den Familiennachzug Geflüchteter so viele Kinder ins Land gekommen wären, dass insbesondere das Bildungssystem überfordert sei. Dabei kamen sowieso nur ein paar hundert Kinder über den Familiennachzug. Summiert man alles zusammen, dann gibt es in Wien zuletzt einige tausend Erstklassler, die noch nicht gut genug deutsch konnten, aber schon in der zweiten Klasse betraf das nur mehr eine kleine Minderheit. Es ist eine unglaubliche Aufgabe für Lehrerinnen und Lehrer und das ganze Bildungssystem, wenn viele Kinder in der Klasse sitzen, die man erst einmal fördern muss. Viele Lehrerinnen und Lehrer fühlen sich allein gelassen mit der Herkulesaufgabe. Ein Problem, aber eines, das sich lösen ließe, indem man ins Bildungssystem investiert. Geradezu bizarr ist es, dass die Regierung tatsächlich ein Dokument verabschiedet hat, in dem sie in Österreich eine „gesamtstaatliche Notlage“ erklärt.

Schauen Sie einmal aus dem Fenster: Sehen Sie irgendwo etwas, was den Begriff der „Notlage“ begründet? Es ist absurd, und untergräbt auch das Vertrauen in das Recht, wenn eine der bestfunktionierenden Gesellschaften der Welt einfach von sich behauptet, sie wäre in einer „Notlage“ wegen einiger tausend Kinder. Bei allen echten Problemen, die heutige Gesellschaften haben – von Inflation bis zur Erderhitzung und dem Nahostkrieg –, wer die Zustände unseres Gemeinwesens als „gesamtstaatliche Notlage“ sieht, dem würde man wünschen, einmal nur zwanzig Minuten eine echte Notlage zu erleben, damit er wieder ein bisschen mehr Realitätsbewusstsein bekommt.

Wirklichkeitsverlust durch faschistische Propaganda

Die faschistische und rechtspopulistische Propaganda und ihr medialer Resonanzraum haben ein Meinungsklima geschaffen, das einer völligen Phantasierealität gleicht. Die Wissenschaft, etwa die Sozialpsychologie, spricht in diesem Zusammenhang von „Entrealisierung“, wenn weite Teile der Bevölkerung „den Sinn für die Realität, für die Wahrheit“ verlieren und „sich in negativer Einstellung“ fixieren, so der Philosoph Reiner Wiehl.

Hochmedialisierte Gesellschaften sind dafür noch einmal besonders anfällig, weil über Medien von Boulevard bis zu Social Media eine „Wirklichkeit“ vorgegaukelt wird, mit der die Menschen im Alltag keine reale Erfahrung haben, aber dennoch glauben, dass sie existiert. Die Propaganda schafft eine Scheinwelt. Wird von allen Seiten getrommelt, scheitern vernünftige Stimmen daran, die Realität gegen die Wahnbilder zu verteidigen, und der kommunikative Resonanzraum einer ganzen Gesellschaft kann kippen. So wie manche Spinner in einer Traumwelt leben, leben die Erregten in ihrer Alb-Traumwelt.

Jason Stanley, der Linguist und führende US-Faschismusforscher, spricht von einer Strategie der „Unwirklichkeit“, die mit Übertreibungen, Erfindungen operiert, wobei „regelmäßig wiederholte, offenkundige Lügen“ genauso Teil dieses Prozesses sind wie Verschwörungstheorien. Am Ende lebt der von der Propaganda Gehirngewaschene in seiner Parallelwelt und Pseudowirklichkeit.

Wenn wir eine echte Notlage haben, dann eine gesamtstaatliche, kommunikative Notlage.

Das hat zuletzt solche Formen angenommen, dass auch die Verteidiger der offenen Gesellschaft allenfalls anmerken, dass wir die Zuwanderung doch brauchen, weil sonst in einer alternden Gesellschaft alle Infrastrukturen zusammenbrechen, weil es dann in Spitälern und Pflegeheimen niemanden mehr gäbe, der unseren Omas den Popsch auswischt, weil niemand den Müll weg brächte, weil die Restaurants keine Arbeitskräfte mehr fänden. Subtext: die Zuwanderung ist zwar unangenehm, aber es geht nicht ohne. Diese Form von Argumentation ist aber selbst schon infiziert vom Ungeist und Realitätsverlust.

Das Glück der Vielfältigkeit

Es zeigt, wie verrottet unsere Diskurse sind, wenn das schon die „Verteidigung der Vernunft“ ist. Es ist zweifelsohne richtig, dass mindestens die Hälfte der österreichischen Unternehmen ohne Migration einfach zusperren müssten, und es ist auch richtig, darauf hinzuweisen. Aber das kann ja wohl nicht das einzige Argument dafür sein, die Anwesenheit unserer Nachbarn und Freunde (gewissermaßen zähneknirschend) hinzunehmen.

Nein, die Realität unserer multikulturellen Gesellschaft ist nicht ein schlechter Zustand, der nur hingenommen werden muss, weil er erstens nicht zu ändern ist und man zweitens halt mehr Leute braucht für die notwendigen Jobs. Die Realität unserer multikulturellen Gesellschaft ist, dass eine neue Gesellschaft entsteht, mit Menschen, die unterschiedliche Hintergründe, familiäre Prägungen haben, unterschiedliches kulturelles Herkommen. Die Realität ist, dass unsere Kinder mit vielen Kindern in die Schule gehen, die alle ein bisschen verschieden sind. Dass wir Einflüssen durch jeweils Andere ausgesetzt sind, von denen wir etwas lernen. Wir leben in einer Welt, in der die Menschen zwei, drei Sprachen sprechen, und die Heranwachsenden und die Zwanzigjährigen natürlich ein paar Brocken serbokroatisch, ein paar Brocken türkisch können, oder sogar selbst multilingual werden.

Nein, die Zuwanderung ist nicht „unangenehm“. Einige Zugewanderte sind vielleicht unangenehm, genauso, wie einige, die schon immer hier sind. Die Zuwanderung ist alles in allem natürlich toll.  

Sie schafft unsere heutige Lebensart, wo in Maturaklassen sieben, acht „Ethnien“ repräsentiert sind, und das ganz normal ist. Wo sich die Twens selbstverständlich „binational“ verlieben, wo man in Familien aufwächst, wo der eine türkisch ist, die andere österreichisch oder was auch immer. Wo ich auf die Straße gehe und ich nicht nur in der Nachkriegs-Monokultur von lauter Ähnlichen lebe, sondern in einer Welt, in der die Menschen alle ein bisschen anders aussehen. Viele auf ihre Weise fesch, Haut und Haar in allen Brauntönen, was im Stadtleben, das von visuellen Eindrücken lebt, ja auch keine Nebensache ist. Man spaziere nur einmal an einem Sommerabend die Favoritenstraße hoch und stelle sich dann in die endlose Schlange beim Tichy an, diesem Schmelztiegel der Nationen.

Monokultur, nein danke!

Von der FPÖ-Propaganda Verhetzte tun das natürlich nicht, weil man ihnen das Gehirn gewaschen und eingeredet hat, sie müssten da durch eine No-Go-Area wo man fast fix erstochen wird.

Dass sich die Angsthasen daheim einbunkern hat sicher seine guten Seiten, so wird wenigstens die Schlange kürzer.

Multikulturelle Identität heißt aber auch, dass wir im Arbeitsleben, in den Büros, Redaktionen, im Betrieb, beim Installateur, in der Fabrik, mit Kolleginnen und Kollegen zusammen arbeiten, deren Eltern oder Großeltern vielleicht vom anderen Ende der Welt kamen (oder die sogar selbst vom anderen Ende der Welt kommen), und die in vielerlei Hinsicht natürlich längst ähnlich „ticken“ wie ich (das nennt man Integration), aber doch in ein paar tiefgehenden Prägungen auch ein wenig anders „ticken“, also nicht vollständig assimiliert sind. Man lernt ein bisschen voneinander, zugleich lacht man im besten Fall auch miteinander über die Eigenheiten der jeweils eigenen Leute, so wie man ja generell gerne über die eigenen Schrullen lachen kann, wenn man nicht zu sehr verbohrt ist.

So ist sie, die Wirklichkeit, und manchen Leuten würde man dringend raten, gelegentlich mit der Realität in Berührung zu kommen und nicht nur in ihren Blasen zu leben.

Man lernt auch mit den Augen der jeweils Anderen zu sehen, vielleicht auch die Verwundungen zu begreifen, die das Aufwachsen in einem Klima des Rassismus schlagen können (Verwundungen, die wir Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft selten direkt miterleben, die wir aber gut nachempfinden können, wenn wir keine völlig auf uns selbst bezogenen Trotteln oder Ignoranten sind). Mit den Augen der Anderen zu sehen ist sowieso immer sehr empfehlenswert. Wer damit Probleme hat, hat einen Mangel, der ihm das Leben nicht gerade erleichtern wird, in welcher Hinsicht auch immer. Die multikulturelle Gesellschaft präsentiert uns, wenn man das so nennen mag, täglich eine unendliche „Speisekarte“ an Auswahl für Konsum, für Erlebnisse, für Freizeitgestaltung, für Lebensart, die niemand, der bei Trost ist, mehr missen will. Man lebt miteinander, auch ein bisschen nebeneinander her, wie das in Gesellschaften so üblich ist.

Daueraggressive Trotteln gibt’s überall

Die Realität dieser Gesellschaft ist – absolut überwiegend – die Rücksichtname aufeinander, geprägt vom tastenden Versuch, den jeweils Anderen zu verstehen oder kulturelle Missverständnisse zu vermeiden. Kurzum, die große Mehrheit der Leute sind anständige Kerle und Kerlinnen, sowohl was die einheimische Bevölkerung betrifft (also die „Ureinwohner“ wie mich), als auch die Zugewanderten.

Und klar, gibt’s immer auch ein paar Trotteln und ein paar Geschehnisse, die unschön sind. Aber wo viele Leute auf einem Haufen leben, gibt es immer ein paar Trotteln und Unsympathler, irgenwelche Kickls, die von ihren Aggressionen vergiftet sind, oder eben auch irgendwelche Alis, die brüllen, „der Islam ist die Lösung“ oder einfach irgendwelche Deppen, die glauben, sie müssen den starken Mann raushängen lassen. Eine Welt ohne Probleme gibt’s nicht, eine Welt ohne Problembären auch nicht.

Manchmal mache ich ja auch Urlaub in Gegenden, wo das Gros der Touristen ziemlich monokulturell ist, und etwa primär aus Deutschen über 50 Jahre besteht. Das ist ganz nett, leise, erholsam und ein bisschen fad. Ein bisschen auch ein Ausflug in frühere Zeiten von frappierender ethnischer Homogenität, wie ich sie in den siebziger Jahren noch beinahe als Regel erlebt habe, eine Welt, die wir damals etwas bunter machten, indem wir gegen ihren Konformismus rebellierten. Aber es reicht dann nach 14 Tagen auch wieder. Nach einer Zeit kultureller Einheitlichkeit sehnt man sich dann ordentlich nach der lebenskulturellen Vielfalt unserer Zeit und freut sich schon richtig auf Neukölln, Kreuzberg, Ottakring oder Favoriten zurück.


Titelbild: Miriam Moné

Autor

  • Robert Misik

    Robert Misik ist einer der schärfsten Beobachter einer Politik, die nach links schimpft und nach rechts abrutscht.

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