Vor fast fünfzig Jahren hat Erich Fromm in seinem Buch „Haben oder Sein“ die gegenwärtige Gesellschaft genau beschrieben und die Gefahr ihres Abrutschens in den „technokratischen Faschismus“ benannt. Doch Fromm sieht die Gefahr nicht nur in der Politik, sondern in der mangelnden individuellen Entwicklung des heutigen Menschen.
Im Bestreben, kapitalismuskritische und konsumkritische Bücher von früher wieder zu lesen, ist mir Erich Fromms Haben oder Sein eingefallen. 1976 zum ersten Mal erschienen wurde es sofort zum Bestseller. Ich habe es Ende der 1980er-Jahre zum ersten Mal gelesen und muss zugeben, dass es mir erstens übersimplifizierend und zweitens mir ein Großteil des Gesagten so selbstverständlich schien, dass ich darin zu wenig Neues fand.
In den letzten zwei Tagen habe ich es wieder gelesen. Und ich revidiere mein Urteil. Denn es scheint mir bedeutsam, dass das Buch an einem Punkt ansetzt, der in unserer heutigen Zeit völlig ausgeblendet wird: Fromm legt den Ausgangspunkt für eine Wegentwicklung von einer auf Besitz und Krieg basierenden Gesellschaft in die persönliche Entfaltung des Individuums. Und er stellt die berechtigte Frage, wie ein System, das den Reichen, den Milliardären, den Oligarchen, also den Besitzenden verehrt, auch von jenen unterstützt werden kann, die in der Hierarchie auf der untersten Stufe stehen und nichts besitzen:
Die in der Gesellschaft geltenden Normen prägen auch den Charakter ihrer Mitglieder („Gesellschafts-Charakter“). Sie sind in unserem Fall von dem Wunsch gekennzeichnet, Eigentum zu erwerben, um es zu behalten und zu vermehren, das heißt Profit zu machen. Doch die überwiegende Mehrheit besitzt nichts, und es stellt sich daher die komplizierte Frage, wie Menschen ohne Eigentum die Leidenschaft entwickeln können, dieses zu erwerben und zu behalten. Wie kann man sich als Eigentümer fühlen, ohne Eigentum zu besitzen?
Kaputtsparen von Kultur
Entscheidend scheint zu sein, dass individuelle Entwicklung heute gar nicht mehr als Wert gesehen wird. Das erklärt das Kaputtsparen von Bildung und Kultur durch die heutigen Regierungen. Ein Großteil der Menschen sieht keine Motivation mehr darin; und die Politik sieht darin keine Möglichkeit zur Mobilisierung. Fromm drückt es so aus:
Aufgrund der Dominanz der Selbstsucht meinen die Machthaber unserer Gesellschaft, man könne die Menschen nur durch materielle Vorteile, das heißt durch Belohnungen, motivieren, und Appelle an die Solidarität und Opferbereitschaft würden kein Gehör finden. Deshalb erfolgen solche Aufrufe außer in Kriegszeiten selten, und man lässt sich die Chance entgehen, sich durch die möglichen Ergebnisse eines Besseren belehren zu lassen. Nur eine von Grund auf veränderte sozio-ökonomische Struktur und ein völlig anderes Bild der menschlichen Natur können zeigen, dass Bestechung nicht die einzige (oder die beste) Möglichkeit ist, um Menschen zu beeinflussen.
Dass man den erfolgreichen Autor Fromm zu seiner Zeit akademisch ablehnte, versteht sich von selbst. Heute könnten wir uns glücklich schätzen, wenn die „Philosophen“ und „Denker“, die sich in populären Sachbüchern zur Politik äußern, sein Niveau hätten. Fromm, der Kapitalismus und Sowjetkommunismus gleichermaßen ablehnte, erkannte schon in den 1970er-Jahren ganz genau die Gefahren des Konsumismus. (Er starb im Jahr 1980):
Einer der krankhaften Aspekte unserer Wirtschaft ist der, dass sie eine aufgeblähte Rüstungsindustrie braucht. Selbst heute noch müssen die Vereinigten Staaten, das reichste Land der Welt, ihre Ausgaben für Gesundheit, Sozialleistungen und Bildung einschränken, um die Rüstungslasten tragen zu können. Die Kosten gesellschaftlicher Experimente könnten niemals von einem Staat aufgebracht werden, der sich durch die Produktion von Waffen ruiniert, die zu nichts anderem als zum Selbstmord taugen. Auch können Individualismus und produktives Tätigsein nicht in einem Klima gedeihen, in dem die militärische Bürokratie täglich an Macht zunimmt und Angst und Unterwürfigkeit dadurch um sich greifen.
Hält man sich die Macht der Konzerne vor Augen, die Apathie und Ohnmacht des größten Teiles der Bevölkerung, die Unzulänglichkeit der führenden Politiker fast aller Länder, die Gefahr eines Atomkrieges, die ökologischen Belastungen, ganz zu schweigen von Phänomenen wie klimatischen Veränderungen, die allein schon ausreichen würden, in großen Teilen der Welt Hungersnöte hervorzurufen – haben wir dann überhaupt eine berechtigte Chance der Rettung? Jeder Geschäftsmann würde das verneinen; wer würde schon sein Vermögen aufs Spiel setzen, wenn die Gewinnchancen nur zwei Prozent betragen, oder eine große Summe in ein Geschäft investieren, das keine besseren Erfolgschancen bietet?
Technokratischer Faschismus
Nach Fromms Meinung (aus dem Jahr 1976) steuert die Gesellschaft auf einen „technokratischen Faschismus“ zu. Damit meint er wohl, dass der neue Faschismus das Individuum nicht auf dieselbe Weise unterdrücken wird, wie der historische Faschismus und der Nationalsozialismus – weil er die Masse als Konsumenten braucht. Man kann ihn also kleinreden und verniedlichen.
Ich sage das vor allem anlässlich des eigenartigen und inhaltsarmen Interviews der TAZ mit Juli Zeh, das dieser Tage die Gemüter bewegt. Juli Zeh sagt auf die Frage, warum so viele Menschen AfD wählen: „Die Leute sind einfach extrem unzufrieden. Sie haben nicht das geringste Vertrauen in die herkömmlichen Parteien, weil es an allen Ecken und Enden an der simplen Grundversorgung fehlt: Bildung, Mobilität, Gesundheit, Pflege, bezahlbarer Wohnraum.“
Nun bin ich mir sicher, dass die AfD, wenn sie an der Regierung ist, bei Bildung und Gesundheit weiter einsparen wird, wie das ja bei der FPÖ schön in Österreich der Fall war. Juli Zeh wird nicht annähernd klar, dass die „Unzufriedenen“, die die AfD wählen, in eine kapitalistische Falle treten: Sie glauben, eine negative Bewertung für klassische Parteien abzugeben, wenn sie bei den Wahlen AfD ankreuzen und sich damit selbst der letzten Möglichkeit politischen Einflusses berauben. Eine von internationalen rechten Netzwerken und Oligarchen finanzierte Partei führt sie, wenn sie regiert, in das, was Fromm technokratischen Faschismus nennt. Dort haben sie dann keine Möglichkeit mehr, den „Abbau von Bildung, Mobilität, Gesundheit, Pflege“ negativ zu bewerten.
Logik des Konsumismus
Die Logik des Konsumismus, der User könne seinen Kauf bewerten und habe dadurch Mitsprache, ist also der einzige „Besitz“ der Ärmsten in dem, was von der Demokratie übrig bleibt. Kein Wunder, dass er nur dazu eingesetzt wird, um den Blick auf die tatsächlichen finanziellen und politischen Verhältnisse zu verstellen. Hier findet eine katastrophale Perversion der Demokratie statt. Ich möchte Erich Fromm das letzte Wort lassen und damit anregen, sein inzwischen fast fünfzig Jahre altes Buch (wieder einmal) in die Hand zu nehmen:
Das Leben ist weder ein Glücksspiel noch ein Geschäft. […] Die Aussichten der heutigen Gesellschaft auf Rettung vom Standpunkt des Glücksspiels oder des Geschäfts zu betrachten, ist charakteristisch für den Geist einer Welt des Kommerzes. Die gegenwärtig populäre technokratische Ansicht, dass doch nichts dagegen einzuwenden sei, uns mit Arbeit oder Vergnügen die Zeit zu vertreiben, auch wenn die Gefühle auf der Strecke bleiben, und dass der technokratische Faschismus am Ende gar nicht so übel sei, verrät wenig Weisheit. Aber das ist Wunschdenken. Der technokratische Faschismus muss zwangsläufig zu einer Katastrophe führen.
Titelbild: Manon Verét
